Lage im Überblick Appelle für Waffenruhe - Angriffe in Nahost gehen weiter

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Von dpa
| 27.09.2024 00:09 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
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Das israelische Luftabwehrsystem Iron Dome fängt Raketen aus dem Libanon ab. Foto: Baz Ratner/AP/dpa
Das israelische Luftabwehrsystem Iron Dome fängt Raketen aus dem Libanon ab. Foto: Baz Ratner/AP/dpa
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Trotz des internationalen Aufrufs für eine Waffenruhe bekämpfen sich Israel und die Hisbollah weiter. Die Sorge vor einer Eskalation wächst. Sendet Netanjahu vor den UN ein Zeichen der Entspannung?

Die Erfolgsaussichten der von den USA, Deutschland und anderen Ländern geforderten Waffenpause im Konflikt zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah-Miliz bleiben ungewiss. Zahlreiche Regierungsvertreter warnen eindringlich vor einer weiteren Eskalation in Nahost, doch die gegenseitigen Angriffe dort gehen ungemindert weiter. Im Libanon wurden innerhalb eines Tages nach Behördenangaben fast 100 Menschen getötet, auch im Gazastreifen kommen weiter praktisch stündlich Menschen ums Leben. Mit Spannung erwartet wird eine Rede des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu am Freitag vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York.

Eine Staatengruppe um die USA und Deutschland sowie einflussreiche arabische Länder fordert eine Kampfpause von 21 Tagen, um in der Zeit eine diplomatische Lösung des Konflikts zu erreichen. Laut der israelischen Zeitung „Haaretz“ sollen die angestrebten Verhandlungen zu einem Ende des Kriegs in der Region und auch zur Freilassung der noch immer von der Hamas im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln aus Israel führen. Der Aufruf zur Waffenruhe war nach US-Darstellung mit der israelischen Seite abgestimmt. Netanjahu machte allerdings schnell deutlich, dass man die Hisbollah weiter angreifen werde. Viele Staaten haben dennoch die Hoffnung, dass er bei den UN ein Signal der Entspannung senden könnte. 

Internationale Stimmen dringen auf Annahme des Vorschlags

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und US-Verteidigungsminister Lloyd Austin warnten vor verheerenden Konsequenzen, sollten Israel und die Hisbollah sich nicht einigen. Bei einem Treffen mit dem israelischen Oppositionspolitiker Benny Gantz unterstrich Scholz nach Angaben seines Regierungssprechers einmal mehr, dass er eine diplomatische Lösung für möglich halte. Auch Außenministerin Annalena Baerbock warnte in New York vor einer umfassenden regionalen Eskalation.

EU-Ratspräsident Charles Michel sagte mit Blick auf Israel, es sei absolut unverantwortlich, den Libanon in die Spirale hineinzuziehen. Das palästinensische Volk habe das Recht auf einen eigenen Staat. Ihm diesen zu verwehren, werde „die Sicherheit Israels und aller Juden untergraben“. Libanons Außenminister Abdullah Bou Habib forderte ein internationales Eingreifen. 

Israels Militär soll im Libanon „weitere Missionen erfüllen“

Unterdessen kündigte der israelische Verteidigungsminister Joav Galant weitere Militäreinsätze im Libanon an. „Wir müssen noch weitere Missionen erfüllen“, um die sichere Rückkehr vertriebener Israelis in ihre Häuser im Norden zu ermöglichen, sagte er nach Angaben seines Büros. Israels Regierung hat dies zu einem ihrer Kriegsziele erklärt und will die Hisbollah deshalb dazu zwingen, sich aus dem Grenzgebiet zurückzuziehen.

Israelische Bodentruppen schlossen nach Militärangaben eine Übung für Kampfeinsätze in bergigem Terrain mit viel Dickicht nahe der Grenze zum Libanon ab. Israels Armee bereitet sich auf eine mögliche Bodenoffensive in dem nördlichen Nachbarland vor. Dabei könnte es sich aber auch um militärische Drohgebärden handeln, um die Hisbollah zu einer diplomatischen Lösung zu zwingen.

Angriffe dauern an - viele Tote an nur einem Tag

Die israelische Armee griff eigenen Angaben zufolge 220 Ziele im Nachbarland an, die der Hisbollah zugerechnet werden - darunter einzelne Milizionäre, Waffenlager und Raketenwerfer. Umgekehrt seien rund 170 Geschosse aus dem Libanon auf israelisches Gebiet abgefeuert worden. Nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums kamen bei israelischen Bombardements innerhalb eines Tages mindestens 92 Menschen ums Leben, mehr als 150 wurden demnach verletzt.

Bei einem der Angriffe in einem Vorort der libanesischen Hauptstadt Beirut wurde erneut ein wichtiges Hisbollah-Mitglied getötet. Der Kommandeur der Drohnen-Einheit der Miliz, Mohammed Hussein Srur, habe zahlreiche Angriffe mit Flugrobotern und Marschflugkörpern auf Israel angeleitet, erklärte das Militär. Die Hisbollah bestätigte seinen Tod.

Die vom Iran unterstützte Schiiten-Miliz schoss nach eigenen Angaben unter anderem 80 Raketen auf den israelischen Ort Safed ab. Israelischen Angaben zufolge wurde ein Haus in einem Nachbarort getroffen, zudem sei ein Mann durch Granatsplitter verletzt worden.

In mehreren Gebieten im Zentrum Israels und in der Küstenmetropole Tel Aviv gab es in der Nacht erneut Raketenalarm. Die Warnsirenen ertönten laut Armee als Reaktion auf ein - letztlich abgefangenes - Geschoss aus dem Jemen, wo die islamistischen Huthi-Rebellen immer wieder Raketen auf Ziele in Israel abfeuern. Zuletzt war am Mittwoch Raketenalarm ausgelöst worden, als erstmals ein von der Hisbollah abgefeuertes Geschoss bis zum Großraum Tel Aviv vordrang.

Menschen flüchten selbst ins Bürgerkriegsland Syrien

Infolge der intensiven israelischen Luftangriffe mit mehr als 700 Toten seit Montag suchen im Libanon Zehntausende Zuflucht in Notunterkünften. Über 70.000 Vertriebene wurden dort bislang nach Angaben des Innenministeriums aufgenommen. 

Die genaue Zahl der Binnenvertriebenen lässt sich derzeit schwer ermitteln. Viele Menschen sind zu Verwandten geflüchtet, andere schlafen auf den Straßen. Der libanesische Gesundheitsminister Firass Abiad sagte dem Sender CNN, er gehe von 400.000 bis 500.000 Binnenvertriebenen aus. 

Syrer im Libanon vor schwerer Entscheidung

Rund 13.500 Menschen flüchteten laut dem libanesischen Innenministerium seit Montag auch nach Syrien - vor allem syrische Staatsbürger. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks flohen aber auch Libanesen in das Nachbarland, in dem seit 2011 Bürgerkrieg herrscht.

Im Libanon, der selbst nur etwa sechs Millionen Einwohner hat, leben nach Regierungsangaben 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge. Bei den israelischen Bombardements kamen in den vergangenen Tagen mehr als 100 von ihnen ums Leben, wie die Syrische Beobachtungsstelle mit Sitz in London mitteilte. Die Menschen, die vor dem Kriegshorror in ihrem Land geflohen seien, müssten harte Entscheidungen treffen: im Libanon bleiben unter israelischem Beschuss oder zurückkehren in von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiete, wo ihnen die Festnahme und Verschleppung droht.

Auch Kämpfe im Gazastreifen gehen weiter

Im Schatten der Bombardements im Libanon dauern auch die Kämpfe im Gazastreifen an. Bei einem israelischen Angriff auf ein ehemaliges Schulgebäude im Norden des Gebiets kamen nach kaum überprüfbaren palästinensischen Angaben mindestens elf Menschen ums Leben, 22 weitere wurden demnach verletzt. Unter den Toten sollen auch Minderjährige sein, wie die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde im Gazastreifen mitteilte. Demnach sollen in dem Gebäude im Flüchtlingsviertel Dschabalija Vertriebene untergebracht gewesen sein. 

Israels Armee teilte mit, Terroristen der islamistischen Hamas hätten das Gebäude der ehemaligen Schule als Kommandozentrale genutzt und dort Anschläge auf den jüdischen Staat geplant. Vor dem Angriff habe die Armee zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Gefahr für Zivilisten zu mindern. Israel wirft der Hamas vor, sich gezielt in zivilen Gebäuden zu verschanzen und Unschuldige als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Die Angaben beider Seiten lassen sich in der Regel kaum unabhängig überprüfen.

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