Berlin (dpa)
Weniger islamistische Gefährder, aber nicht weniger Gefahr
Bei islamistischen Attentätern ist die Motivlage selten eindimensional. Manchmal kommt Drogenkonsum hinzu, eine kriminelle Laufbahn, eine psychische Erkrankung. Oder das Gefühl, eigene Lebensziele nicht erfüllen zu können.
Die deutsche Polizei hat heute deutlich weniger gefährliche Islamisten auf dem Schirm als noch vor einigen Jahren. Das sieht auf den ersten Blick aus wie eine gute Nachricht.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass zwar die Zahl der polizeibekannten „Gefährder“ sinkt. Die Gefahr, die hierzulande von islamistischen Extremisten ausgeht, nimmt aber nicht ab. Der Verfassungsschutz rechnete im vergangenen Jahr 28.715 Menschen zum „islamistischen Personenpotenzial“ - ein Anstieg um 2,5 Prozent im Vergleich zu 2019.
Als Gefährder bezeichnet man im Bereich der politisch motivierten Kriminalität Menschen, denen die Polizei schwere Gewalttaten bis hin zu Terroranschlägen zutraut. Wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Frage des FDP-Innenpolitikers Benjamin Strasser hervorgeht, waren im Juli bundesweit 564 Menschen im Bereich „religiöse Ideologie“ als Gefährder eingestuft. Im Juli 2018 hatte die Polizei noch 774 potenziell gefährliche Islamisten im Visier.
Eine der Ursachen für den Rückgang ist die militärische Niederlage der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien, die auf einige Sympathisanten ernüchternd gewirkt haben könnte. Eine weitere sind Abschiebungen. Allerdings fällt nicht jeder ausländische Gefährder, der abgeschoben wird, damit automatisch aus der Statistik. Vor allem dann nicht, wenn zu vermuten ist, dass er versuchen könnte, nach Deutschland zurückzukehren. Ob und wann ein Einzelfall in der mit ausländerrechtlichen Maßnahmen befassten Arbeitsgemeinschaft Status des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums von Bund und Ländern als erledigt gilt, obliege der Entscheidung des jeweils für den Fall zuständigen Bundeslandes, heißt es aus dem Bundesinnenministerium.
Nach Angaben des Ministeriums haben im vergangenen Jahr 46 Gefährder Deutschland verlassen, die entweder abgeschoben wurden, an ihr Heimatland „überstellt“ oder „kontrolliert freiwillig ausgereist“ sind. In diesem Jahr sind bisher (Stand 28. Juli) 35 Islamisten aus dieser Kategorie außer Landes gebracht worden.
Wie die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage des AfD-Abgeordneten Anton Friesen hin mitteilte, sind inzwischen 388 der mutmaßlichen Islamisten, die sich in Syrien oder dem Irak dschihadistischen Gruppen angeschlossen hatten, nach Deutschland zurückgekehrt. Unter ihnen hat die Polizei 75 Gefährder identifiziert, von denen einige in Haft sind.
Radikale Salafisten, die sich in Moscheen treffen, machen den Sicherheitsbehörden aktuell nicht unbedingt die größten Sorgen. Mindestens genauso problematisch sind andere Gruppen: kampferprobte Rückkehrer, die sich im Irak oder in Syrien Terrorgruppen angeschlossen hatten. Verschwörer, die sich aus Angst vor Beobachtung durch Polizei und Verfassungsschutz nur in Privaträumen oder im virtuellen Raum treffen. Radikale Islamisten, bei denen die Haftentlassung bevorsteht und wo unklar ist, ob sie der Terror-Ideologie abgeschworen haben. Hinzu kommen Extremisten, die entweder noch nie oder aber wegen Straftaten ohne politisch-religiösen Hintergrund aufgefallen sind.
Bei einigen Anschlägen der vergangenen Monate spielten auch psychische Erkrankungen der Täter eine Rolle. Diese lassen sich nach Einschätzung von Sicherheitsexperten nicht immer eindeutig von dem oft im Internet angelesenen Hass auf die vermeintlich „Ungläubigen“ trennen. Ob die religiösen Überzeugungen des Flüchtlings aus Somalia eine Rolle spielten, als der am 25. Juni in Würzburg drei Frauen erstach und weitere Menschen verletzte, ist noch offen. Fest steht, dass im Leben des 24-Jährigen einiges schief gelaufen war und dass er psychische Probleme hat. Zuletzt lebte er in einer Obdachlosenunterkunft. Aber nicht jeder, der krank ist und Schwierigkeiten hat, sticht deshalb auf fremde Menschen ein.
Im Verfassungsschutzbericht für 2020 werden drei Terrorakte aufgezählt, bei denen eine islamistische Gesinnung als Tatmotiv vermutet wird. In zwei Fällen gibt es psychische Auffälligkeiten: Da war der Iraker, der auf seiner Facebook-Seite islamistische Slogans postete, bevor er im August auf der Berliner Stadtautobahn durch Kollisionen absichtlich sechs Menschen verletzte. Als schizophren gilt der von Kollegen und Nachbarn als unauffällig und freundlich beschriebene Attentäter aus dem bayerischen Waldkraiburg. Der Kurde hatte im Frühjahr 2020 Geschäfte von Menschen türkischer Herkunft beschädigt, einen Brandanschlag verübt und größere Sprengstoffanschläge geplant. Auf islamistische Propaganda stieß er im Internet. In seiner Gedankenwelt mischte er Hass auf die Türkei mit Sympathie für den IS.
Der zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilte IS-Anhänger wurde noch während des Prozesses in der geschlossenen Psychiatrie untergebracht. „Ohne die Schizophrenie sind die vom Angeklagten verübten Anschläge in Waldkraiburg nicht denkbar“, sagte der Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht bei der Urteilsverkündung vor zwei Wochen. Sie seien aber „ebenso wenig denkbar ohne die islamistisch-dschihadistische Ideologie“. Diese sei „das Fundament, auf dem die Schizophrenie aufgesattelt hat“.
Neben den „Gefährdern“ schaut die Polizei aktuell auch auf 529 „relevante Personen“ unter den Islamisten; so heißt es in der Antwort der Regierung, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Ihre Zahl war zuletzt leicht gestiegen. Zum Kreis der „relevanten Personen“ zählt, wer in der Szene als „Führungsperson“, als „Akteur“ oder als Logistiker und Unterstützer agiert. Außerdem müssen „objektive Hinweise vorliegen, die die Prognose zulassen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung“ verüben werden. Auch Kontakt- oder Begleitpersonen eines Gefährders oder eines Verdächtigen gehören zu dieser Gruppe.
Das Bundesinnenministerium betont, die Zahlen seien nach wie vor „auf einem hohen Niveau“. Alle bestehenden Programme für Prävention und Deradikalisierung sollten durch unabhängige Experten auf ihre Wirksamkeit und mögliches Verbesserungspotenzial hin überprüft werden, fordert der FDP-Innenpolitiker Strasser.
Abdullah A. war als Minderjähriger alleine nach Deutschland gekommen, begleitet von den großen Erwartungen, die seine Eltern in ihn setzten - und die er nicht erfüllen konnte. In Dresden sticht der junge Syrer im Oktober 2020 auf ein schwules Paar ein. Einer der beiden Männer stirbt. Sozialarbeiterinnen und eine Psychologin, die Abdullah A. zuvor während seiner Zeit in der Jugendhaft erlebt hatten, beschrieben ihn als freundlich und offen.
Nicht nur Anbieter von Deradikalisierungsprogrammen müssen ihre Methoden ständig überprüfen. Auch die Werkzeuge, mit denen die Polizei einschätzt, wie wahrscheinlich es ist, dass ein bestimmter Extremist Gewalt anwendet, werden angepasst. Damit Fehleinschätzungen wie 2016 nicht mehr passieren. Weil er im Internet auf Pornoseiten unterwegs war und Drogen verkaufte, ging die Polizei davon aus, der abgelehnte Asylbewerber Anis Amri habe sich vom militanten Salafismus distanziert. Die Observation des späteren Weihnachtsmarkt-Attentäters wurde eingestellt. Im Dezember 2016 tötete er in Berlin zwölf Menschen.
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