Amsterdam (dpa)
Lieber locker statt Lockdown: Trendwende in Niederlanden
Anfang Juli explodierten die Corona-Infektionszahlen in den Niederlanden. Dann zog die Regierung die Notbremse. Mit Erfolg. Doch zum Aufatmen ist es zu früh.
Dicht an dicht sitzen die Leute an den Amsterdamer Grachten in der Sonne. Küsschen zur Begrüßung, kaum einer hält Abstand, keiner trägt Maske - die liegen allenfalls im Müll. Gedränge in den Läden, Grillparties in Parks. „Gezellig“, so wie es die Niederländer eben lieben.
War da noch was? Ach ja - die Niederlande sind Hochrisikogebiet. Die Infektionszahlen liegen hier etwa sieben Mal so hoch wie beim deutschen Nachbarn.
Viele Urlauber konnten fast ihren Augen nicht trauen. Wenn sie nicht geimpft waren, dann drohte ihnen nach der Heimkehr die Quarantäne. Nun aber ändert sich das; ab Sonntag sind die Niederlande laut Einschätzung der Bundesregierung dank einer Verringerung der Infektionszahlen nicht mehr Hochrisikogebiet. Allerdings fühlte sich der Alltag im Nachbarland für deutsche Besucher auch vorher schon beinahe so an wie vor Corona. Und das bei Inzidenzen von über 100. Überhaupt: Das Wort Inzidenz ist ein Fremdwort. Wenn ein Deutscher einen Niederländer nach diesem Wert fragt, kann er höchstens die verständnislose Rückfrage erwarten: „Wat is dat?“
Trendwende trotz Freiheiten
Doch nun ist die Trendwende da. Seit mehr als zwei Wochen gehen die Zahlen der Neuinfektionen in allen Regionen drastisch zurück. Und das alles ohne Lockdown. Nur ein paar Regeln gibt es: Maskenpflicht in Bus und Bahn, Auflagen für Museen, Theater und Kinos sowie andere Veranstaltungen.
Und doch gelang es, das Virus einzudämmen. Wie ist das möglich?
Die Notbremse der Regierung hat gewirkt. Vor etwa vier Wochen waren Premier Mark Rutte und sein Gesundheitsminister Hugo de Jonge zerknirscht vor die TV-Kameras getreten und hatten sich entschuldigt. Sie hätten mit der Lockerung fast aller Corona-Maßnahmen Ende Juni einen „Einschätzungsfehler“ gemacht.
„Tanzen mit Janssen“
Das war leicht untertrieben. Minister de Jonge hatte zum Beispiel mit dem lockeren Slogan „Tanzen mit Janssen“ die Jugend ausdrücklich ermuntert, sich schnell impfen zu lassen: Am Morgen eine Dosis Janssen - unter diesem Namen wird in den Niederlanden der Impfstoff des US-Unternehmens Johnson & Johnson vermarktet - und dann am Abend zur Party. Da war der volle Impfschutz noch gar nicht gewährleistet; mittlerweile geht man dafür beim Präparat von Johnson&Johnson in den Niederlanden von einer Frist von vier Wochen aus.
Der Fehler war folgenschwer. Kaum öffneten Discos, und Clubs, und gab es wieder Festivals und Studentenpartys, explodierten die Infektionszahlen um bis zu 500 Prozent. Bei Jugendlichen von 18 bis 24 sogar um 850 Prozent. Die Regierung zog die Notbremse. Das Nachtleben stoppte, alle Gaststätten müssen spätestens um Mitternacht schließen, Festivals sind verboten.
Und das war der Hauptgrund für die Trendwende, analysiert das Institut für Gesundheit und Umwelt RIVM. Zuletzt wurden in einer Woche 21.000 Neuinfektionen registriert, 44 Prozent weniger als in der Vorwoche mit rund 37.000. Auch die Zahl der Covid-Patienten in Krankenhäusern stabilisiert sich.
Virus auf dem Rückzug
Vor allem in der Altersgruppe von 18 bis 24 Jahren beobachten die Experten drastisch weniger Infektionen. Und die Jugendlichen waren genau diejenigen, die nach Öffnung der Clubs Ende Juni alle Zügel abgestreift hatten. Clubs, Discos und Studenten-Partys waren in fast 40 Prozent der Fälle die Quelle der Ansteckung. Jetzt sind Gaststätten nur noch für weniger als vier Prozent der Neuinfektionen verantwortlich.
Das Virus ist auf dem Rückzug, stellen die RIVM-Experten fest, obwohl es bei 92 Prozent der Infektionen um die Deltavariante geht. Die Reproduktions-Zahl liegt nun bei weniger als 0,7. Das heißt, dass 100 Menschen rechnerisch 70 anstecken können.
Der zweite Grund für den rückläufigen Trend ist die gut verlaufende Impfkampagne. 21,3 Millionen Impfdosen wurden im Land mit 17 Millionen Einwohnern bisher gespritzt. Etwa zwei Drittel der Erwachsenen ist völlig geimpft, und mehr als 85 Prozent haben zumindest eine Dosis erhalten.
Wie geht es weiter?
„Das sind an sich positive Zahlen“, sagt Ministerpräsident Rutte. Und doch will er noch keine Entwarnung geben. „Sicher im Vergleich zu unseren Nachbarländern, wie etwa Deutschland, ist die Zahl der positiven Tests noch viel zu hoch.“ Und dann müssen die Niederländer ja auch noch aus dem Urlaub zurückkommen. Schon jetzt gehen etwa zehn Prozent der Infektionen aufs Konto von Heimkehrern. Doch anders als in Deutschland müssen sich Niederländer nur testen lassen, wenn sie aus einem Hochrisikoland zurückkehren.
Am 13. August will die Regierung entscheiden, wie es weitergeht. Dürfen Bars und Clubs wieder öffnen? Und was ist mit Festivals oder Fußballspielen? Fehler kann sich Premier Rutte nicht mehr erlauben. Immer mehr Bürger wollen Klarheit. Eine Mehrheit sprach sich jetzt in einer Umfrage dafür aus, Maßnahmen nur vorsichtig zu lockern. Und jeder dritte will sogar erneut eine Maskenpflicht.
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