Kabul/Washington (dpa)

Flughafen und Militärbasis bei Kundus an Taliban gefallen

| 11.08.2021 07:48 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Die Taliban nehmen in Afghanistan seit dem Abzug internationaler Truppen anscheinend eine Stadt nach der anderen ein. Nun sind sie in Kundus. Auch auf die Hauptstadt Kabul rücken sie vor.

Die Taliban haben in der Großstadt Kundus im Norden Afghanistans nun auch den Flughafen und eine große Militärbasis erobert. Das bestätigten Provinzräte und Sicherheitskreise am Mittwoch. 

In der Basis waren im Vorjahr noch rund hundert deutsche Soldaten stationiert gewesen. Die wichtigsten Regierungseinrichtungen in Kundus waren bereits am Sonntag von den Taliban erobert worden. Sicherheitskräfte und lokale Regierungsvertreter flohen daraufhin zum Flughafen und in die Basis des 217. Armeekorps in der Nähe.

Aus Sicherheitskreisen hieß es, die Islamisten hätten seit Sonntag die Basis und den Flughafen angegriffen und seien dabei vergleichsweise langsam, aber stetig vorgegangen. Details waren zunächst unklar.

Am Mittwochmorgen habe schließlich eine große Anzahl Sicherheitskräfte mitsamt Regierungsvertretern in einem Konvoi gepanzerter Fahrzeuge die Basis verlassen, um in den Bezirk Warsadsch zu gelangen. Dort sind bereits Soldaten aus anderen gefallenen Teilen der Provinzen Tachar und Badachschan. 

Kurz darauf soll sich der Kommandeur der Spezialkräfte der Polizei mit zwölf weiteren den Taliban ergeben haben. Wenig später sei eine Gruppe von 30 bis 40 Kräften, die sich auch nach Warsadsch durchschlagen wollte, von den Taliban aus dem Hinterhalt angegriffen worden. Daraufhin hätten sich mindestens 100 in der Basis Zurückgebliebene kampflos den Taliban ergeben. Wie es zum Fall des Flughafens kam, war zunächst unklar. 

Am Flughafen keine einsatzfähigen Flieger

Videos in sozialen Medien zeigten Taliban-Kämpfer vor einem Hubschrauber innerhalb des Flughafengeländes. Allerdings ist der Hubschrauber nicht einsatzbereit - ihm fehlen die Rotorblätter. Am Flughafen seien keine einsatzfähigen Flieger mehr gewesen, da die Islamisten diese beschossen hätten, sagte ein Provinzrat.

Das 217. Korps der afghanischen Armee in Kundus wird zwar Korps genannt, de facto ist es aber nur eine Division. Die Armee wollte den Stützpunkt zu einem Korps ausbauen, allerdings konnten nicht genügend Soldaten und Mittel dafür gefunden werden. Es war für die Provinzen Kundus, Tachar und Badachschan zuständig. Bei normaler Besetzung sollten dort rund 800 bis 1000 Mann stationiert sein.

Aus Militärkreisen heißt es, Hunderte Humvees und rund 5000 Waffen von Kalaschnikow bis zu schweren Maschinengewehren dürften in der Basis sein. Es war unklar, wie viel davon rechtzeitig fortgeschafft wurde. Die deutschen Soldaten waren in einem eigenen Teil der Basis stationiert gewesen, zu der afghanische Sicherheitskräfte keinen Zutritt hatten. Der Teil war im Frühjahr an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben worden und wurde laut lokalen Behördenvertretern von einer Einheit afghanischer Kommandos genutzt.

Biden verteidigt Abzug des US-Militärs

Trotz der sich schnell verschlechternden Sicherheitslage verteidigte US-Präsident Joe Biden erneut den Abzug des US-Militärs. Die Afghanen müssten nun „selbst kämpfen, um ihren Staat kämpfen“, sagte er im Weißen Haus in Washington. Ihre Streitkräfte seien den Taliban militärisch überlegen, auch in Bezug auf die Truppenstärke. „Aber sie müssen auch kämpfen wollen“.

Der US-Präsident appellierte am Dienstag an die politische Führung in Kabul, an einem Strang zu ziehen. Wörtlich sagte er: „Ich glaube, sie beginnen zu verstehen, dass sie an der Spitze politisch zusammenkommen müssen.“ Biden versprach, die USA würden die afghanischen Sicherheitskräfte weiterhin finanziell und militärisch unterstützen. Er werde jeden Tag über die Lage unterrichtet.

Mit Blick auf den von ihm angeordneten Abzug der US-Truppen fügte der Präsident hinzu: „Aber ich bedauere meine Entscheidung nicht.“ Inzwischen ist der Abzug zu mehr als 95 Prozent abgeschlossen. Auch die deutsche Bundeswehr und die Soldaten anderer NATO-Länder haben Afghanistan bereits verlassen.

Taliban erobern Faisabad

Die Taliban haben im Norden Afghanistans die Provinzhauptstadt Faisabad erobert, in der einmal die Bundeswehr stationiert war. Faisabad in der gebirgigen Provinz Badachschan ist die neunte von insgesamt 34 Provinzhauptstädten, die von den militanten Islamisten innerhalb nur einer Woche eingenommen wurde.

Die Eroberung Faisabads durch die Taliban wurde am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur von einem ein Provinzrat und einem Parlamentsvertreter bestätigt. Bei ihrem rasanten Vormarsch haben die Islamisten nun schon weite Teile des Gebiets unter ihre Kontrolle gebracht, für das die Bundeswehr während ihres 20-jährigen Afghanistaneinsatzes innerhalb der Nato zuständig war.

Massive Gebietsgewinne seit Truppenabzug

Seit dem Beginn des Truppenabzugs Anfang Mai haben die Taliban massive Gebietsgewinne verzeichnet. Sie hatten von 1996 bis zur US-geführten Intervention 2001 weite Teile Afghanistans unter ihrer Kontrolle.

Der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, warnte unterdessen vor einem erneuten Eingreifen des Westens in Afghanistan. Ob sich dort „künftig wieder die Schreckensherrschaft der Taliban etabliert, muss für die Nachbarn und regionalen Mächte als Gefährdung der Stabilität mindestens genauso große Besorgnisse erregen, wie für die transatlantischen Partner“, sagte Ischinger der Düsseldorfer „Rheinischen Post“ vom Mittwoch. Er verwies dabei insbesondere auf China, Indien, Pakistan, Russland und den Iran. Deshalb sei hier in erster Linie der UN-Sicherheitsrat gefragt, denn es gehe um zentrale Fragen regionaler Stabilität.

© dpa-infocom, dpa:210811-99-799514/7

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