Washington/Kabul (dpa)
Weißes Haus kündigt G7-Schalte zur Lage in Afghanistan an
Seit dem Sturz Afghanistans in tiefes Chaos geht international Ratlosigkeit um. Die großen Industrienationen wollen nun bei einer Videoschalte über eine gemeinsame Strategie nachdenken.
Nach der faktischen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan wollen die Staats- und Regierungschefs der G7-Staaten in der kommenden Woche bei einer Videokonferenz über das weitere Vorgehen beraten.
Das Weiße Haus teilte am Dienstagabend mit, US-Präsident Joe Biden und der britische Premier Boris Johnson hätten in einem Telefonat vereinbart, eine solche G7-Schalte anzusetzen. Bei dem spontanen Online-Gipfel der Gruppe sieben wichtiger Industriestaaten solle es um eine gemeinsame Strategie und Herangehensweise in der Krise in Afghanistan gehen.
Blitzartiger Vormasch
Die Taliban hatten in den vergangenen Wochen nach dem Abzug der ausländischen Truppen in rasantem Tempo praktisch alle Provinzhauptstädte in Afghanistan eingenommen - viele kampflos. Am Sonntag rückten sie schließlich in die Hauptstadt Kabul ein. Kämpfe gab es keine. Der blitzartige Vormarsch überraschte viele Beobachter, Experten und auch ausländische Regierungen.
Nach ihrem rasanten Eroberungszug und der Flucht des afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani haben die Taliban wieder faktisch die Macht im Land übernommen - knapp 20 Jahre nach dem Beginn des US-geführten Militäreinsatzes in Afghanistan. Viele Afghanen befürchten nun eine Rückkehr der Schreckensherrschaft wie in den 90er Jahren, als die Taliban zuletzt an der Macht waren. Frauen und Mädchen wurden damals systematisch unterdrückt, Künstler und Medien zensiert. Und die Islamisten setzten ihre Vorstellungen mit barbarischen Strafen durch.
Biden in der Kritik
Biden hatte im vergangenen Monat angekündigt, die US-Truppen bis Ende August vollständig aus Afghanistan abzuziehen - woraufhin auch andere Nato-Partner ihre Soldaten heimholten. Der Vormarsch der Taliban hatte sich daraufhin enorm beschleunigt. Der US-Präsident steht wegen seines Entschlusses und der dramatischen Folgen schwer in der Kritik.
Das Weiße Haus erklärte, Biden und Johnson hätten in ihrem Telefonat über die Notwendigkeit gesprochen, dass sich die Verbündeten und demokratischen Partner in ihrer Afghanistan-Politik kontinuierlich eng abstimmten. Das gelte auch für Wege, wie die Staatengemeinschaft Flüchtlinge aus Afghanistan humanitär unterstützen könne. Zu den G7-Staaten zählen neben den USA und Großbritannien auch Deutschland, Frankreich, Italien, Japan und Kanada.
Taliban: Versöhnliche Töne
Die militant-islamistischen Taliban hatten am Dienstag bei ihrer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme betont versöhnliche Töne angeschlagen und sich bemüht, die Menschen im Land in Sicherheit zu wiegen. Unter anderem beteuerten sie, weitere politische Kräfte an der Macht in Afghanistan beteiligen zu wollen und sich für die Rechte von Frauen im Rahmen der islamischen Scharia einzusetzen. Ihre Landsleute hätten nichts zu befürchten - auch jene nicht, die in Opposition zu den Islamisten gestanden hätten.
Die US-Regierung reagierte zurückhaltend auf die Beteuerungen. Jake Sullivan, Nationaler Sicherheitsberater Bidens, sagte auf die Frage, ob er den Ankündigungen der Taliban traue: „Hier geht es nicht um Vertrauen.“ Die Taliban müssten sich an ihren Worten messen lassen. Angesprochen auf mögliche Hebel der USA, um Druck auf die Islamisten zu machen, erwähnte Sullivan nur vage potenzielle Sanktionen und Schritte, um sie international zu verurteilen und zu isolieren.
Mit Blick auf die laufenden Evakuierungsaktionen in Kabul sind die USA derzeit nach eigenen Angaben allerdings im Gespräch mit den Taliban. Sullivan sagte, die Islamisten hätten zugesagt, Zivilisten unbehelligt zum Flughafen in der Hauptstadt zu lassen. Auf Nachfrage sagte er, nach US-Erkenntnissen gelinge es Menschen „im Großen und Ganzen“, dorthin zu gelangen. „Es gab Fälle, in denen uns berichtet wurde, dass Menschen abgewiesen oder zurückgedrängt oder sogar geschlagen wurden.“ Diese Fälle würden bei den Taliban angesprochen.
Chaos in Kabul
Der Flughafen in der Hauptstadt Kabul gilt als letztes Gebiet, in dem die Taliban nicht das Sagen haben. Die noch im Land verbliebenen Kräfte haben sich dorthin zurückgezogen. Auch viele Afghanen, die flüchten wollen, strömten dorthin - in dem verzweifelten Versuch, an Bord eines Fliegers zu kommen, der sie außer Landes bringt.
In den vergangenen Tagen hatten sich am Flughafen von Kabul chaotische Szenen abgespielt. Ein Flugzeug der US-Luftwaffe etwa war dort am Montag gestartet - umringt von Hunderten Zivilisten auf dem Rollfeld. Bilder des dramatischen Moments gingen um die Welt: Auf einem Video war zu sehen, wie Aberdutzende Menschen neben der rollenden US-Militärmaschine herliefen. Einige kletterten auf das Flugzeug und klammerten sich fest. Die US-Luftwaffe teilte am Dienstag mit, nach der Landung der Maschine in Katar seien „menschliche Überreste“ im Fahrwerkschacht entdeckt worden. Der Vorfall solle untersucht werden.
Spezial-Visa für die USA
Die USA haben inzwischen mehrere Tausend Soldaten an den Airport in Kabul geschickt, um die Sicherheit des Flughafens zu gewährleisten und die Evakuierung unter anderen von Amerikanern und früheren afghanischen Mitarbeitern der US-Streitkräfte zu organisieren, die aus Angst vor Racheakten der Taliban flüchten wollen. Das Weiße Haus teilte am Dienstagabend mit, im Laufe des Tages seien rund 1100 Menschen mit US-Militärmaschinen ausgeflogen worden. Da die Abläufe nun etabliert seien, solle die Zahl in den kommenden Tagen deutlich steigen. Insgesamt hätten die USA bislang rund 3200 Menschen evakuiert. Hinzu kämen fast 2000 Afghanen, die zur Umsiedlung mit Spezial-Visa in die Vereinigten Staaten gebracht worden seien.
Auch die Bundeswehr begann unter schwierigsten Bedingungen mit einer Luftbrücke zur Rettung von Deutschen und Afghanen. Mehrere Maschinen Bundeswehr-Maschinen mit aus Kabul evakuierten Deutschen und Ortskräften wurden bereits ausgeflogen. Erste evakuierte Mitarbeiter der Botschaft in Kabul sind inzwischen zurück in Deutschland.
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