Stockholm (dpa)

Nobelpreis - Warum wir Wärme und Berührung fühlen können

Walter Willems, dpa
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Von Walter Willems, dpa
| 04.10.2021 16:31 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
Nobelkomiteemitglied Patrik Ernfors (r) erläutert den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2021 während einer Pressekonferenz im Karolinska-Institut in Stockholm. Foto: Jessica Gow/TT NEWS AGENCY via AP/dpa
Nobelkomiteemitglied Patrik Ernfors (r) erläutert den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2021 während einer Pressekonferenz im Karolinska-Institut in Stockholm. Foto: Jessica Gow/TT NEWS AGENCY via AP/dpa
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Viel Fleiß steckt im diesjährigen Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. „Der größte Teil unserer Arbeit ist Scheitern“, sagte einer der beiden Preisträger einmal. Auch Geduld ist gefragt.

Sonne auf der Haut, kalter Regen, ein inniger Kuss, Druck auf der Blase: Spezielle Nervenzellen sorgen nicht nur dafür, dass wir äußere Einwirkungen auf den Körper fühlen können, sondern auch Teile unserer Innenwelt.

Diese fundamentalen Prozesse können angenehm sein, aber auch schmerzhaft. Zelluläre Grundlagen der Wahrnehmung von Temperatur und Druck haben David Julius von der University of California in San Francisco und Ardem Patapoutian von Scripps Research in La Jolla entschlüsselt. Zeitweise ähnelte ihre Forschung der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen. Und eine entscheidende Rolle für die Entdeckung der Temperatursensoren spielte der für die Schärfe von Chili-Schoten verantwortliche Stoff Capsaicin.

Dass spezialisierte Nervenzellen für die Wahrnehmung unserer Umwelt sorgen, war bereits lange bekannt. Und für den Geruchssinn und das Sehen waren die Mechanismen in solchen Zellen auch schon geklärt - nicht aber für das Empfinden vom Temperatur und Druck. „Wie wir diese physischen Kräfte fühlen und wie sie in eine Sprache übersetzt werden, die wir verstehen können, war lange eine Geheimnis“, erklärte Patapoutian einmal.

Grundlage solcher Mechanismen sind winzige Ionenkanäle - spezielle Proteine auf der Oberfläche von Zellen, die sich je nach Reiz entweder öffnen oder schließen. Für das Ermitteln des Temperatursensors nutzte Julius den scharfen Chili-Stoff Capasaicin, der im Mund heftiges Brennen hervorrufen kann.

Zunächst sammelten Julius und sein Team zahllose Gensequenzen von Nervenzellen, die auf Capsaicin reagieren. Sie vermuteten, darunter müsse ein Gen mit dem Bauplan für ein Protein sein, das auf den Chili-Stoff reagiert. Daraufhin statteten sie im Labor Zellkulturen, die nicht auf Capsaicin reagieren, nacheinander mit den Gensequenzen aus.

„Der größte Teil unserer Arbeit ist Scheitern“, sagte Julius zur Verleihung des Kavli-Preises, „nur ein kleiner Teil ist Erfolg“. Das geduldige Vorgehen zahlte sich letztlich aus: Ende der 1990er Jahre identifizierten die Forscher ein Gen, das die Zellen für Capsaicin sensibilisiert. Es trägt den Bauplan für einen Rezeptor, der bei als schmerzhaft empfundener Hitze einen Ionenkanal öffnet. Auch an Entzündungsprozessen ist der Rezeptor TRPV1 beteiligt.

Mithilfe des Minzöl-Bestandteils Menthol fanden Julius und Patapoutian später unabhängig voneinander den Rezeptor TRPM8, der durch Kälte aktiviert wird. Inzwischen sind weitere Rezeptoren für etliche Temperaturbereiche bekannt. Studien an Mäusen bestätigten später die grundlegende Rolle dieser Rezeptoren bei der Temperaturwahrnehmung.

Zudem identifizierte Patapoutian mit seinem Team erstmals Zellen, die auf mechanischen Druck elektrische Signale aussenden. Daraufhin stellten sie in den Zellen nacheinander Gene ab, die an dieser Reaktion beteiligt sein könnten. Durch das Ausschlussverfahren stießen sie zunächst auf den Ionenkanal Piezo1, der bei Druck auf die Zellmembran aktiviert wird. Später identifizierten sie den Kanal Piezo2. Dieser ist nicht nur maßgeblich an der Wahrnehmung von Berührungen beteiligt. Er ermöglicht es, unsere Lage im Raum zu fühlen - dieser Sinn wird Propriozeption genannt.

„Propriozeption ist ein sehr interessanter Sinn, der mit Berührung verbunden ist“, erläutert Patapoutian in einem Video. Er veranschaulicht die Fähigkeit, indem er mit geschlossenen Augen einen Zeigefinger zur Nase führt. „Propiozeption ist der Sinn dafür, wo die Gliedmaßen sind im Verhältnis zum Körper. Das wird dadurch erreicht, dass man fühlt, wie viele der verschiedenen Muskeln gestreckt sind.“ Damit trägt der Sinn fundamental zur körperlichen Eigenwahrnehmung bei, etwa beim Gehen. Menschen ohne Piezo2 haben keinen Tastsinn und Probleme mit der Eigenwahrnehmung des Körpers.

Die Piezo-Drucksensoren sind auch an vielen grundlegenden Körperprozessen beteiligt, von der Blasenkontrolle über die Atmung und den Blutdruck bis hin zum Gehör. Die „bahnbrechenden Entdeckungen“ von TRPV1, TRPM8 und der Piezo-Kanäle „haben es uns ermöglicht zu verstehen, wie Wärme, Kälte und mechanische Kräfte die Nervenimpulse auslösen, die es uns ermöglichen, die Welt um uns herum wahrzunehmen und uns an sie anzupassen“, schreibt das Nobel-Komitee.

Erst im vergangenen Jahr hatte die Norwegische Akademie die beiden Forscher mit dem Kavli-Preis für Neurowissenschaften gewürdigt. Die Piezos hätten das Tor zum Verständnis der Mechanobiologie von Gesundheit und Krankheit geöffnet, hieß es zur Begründung. TRPV1 und ähnliche Kanäle seien nun Ziele für die Entwicklung neuer Schmerzmittel.

Die Entdeckung von Julius habe „eine riesige Welle in der Schmerzmittelforschung gestartet, die noch läuft“, sagt Gary Lewin vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC). Julius selbst verweist darauf, wie lange solche Prozesse dauern. „Wir sind so ungeduldig wie jeder andere auch“, betonte er in einem Video zur Verleihung des Kavli-Preises. „Wäre es nicht großartig, wenn ein neues Medikament gegen eines der Ziele entstünde - ein neues Schmerzmittel? Das wäre fantastisch, und ich würde das gerne erleben.“

© dpa-infocom, dpa:211004-99-477822/2

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