Stockholm (dpa)
Deutscher bekommt Nobelpreis für Chemie-Turbo
In Industrie und Forschung ist es von enormer Bedeutung, chemische Abläufe zu beschleunigen. Die diesjährigen Chemie-Nobelpreisträger entwickelten dafür einen neuen Ansatz. Er ist so einfach wie genial.
Der Deutsche Benjamin List und der gebürtige Brite David W.C. MacMillan bekommen für eine raffinierte Methode zur Beschleunigung chemischer Reaktionen den Nobelpreis für Chemie. Das teilte die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm am Mittwoch mit.
List ist nach dem Klimaforscher Klaus Hasselmann (Physik) schon der zweite Nobelpreisträger aus Deutschland in diesem Jahr. Insgesamt waren bei den naturwissenschaftlichen Nobelpreisen (Medizin, Physik, Chemie) in diesem Jahr sieben Männer erfolgreich, aber keine Frau.
List und MacMillan - beide 53 Jahre alt - hätten ein neues Werkzeug für den Aufbau von Molekülen entwickelt, die asymmetrische Organokatalyse, hieß es. Sie werde etwa für die Erforschung neuer Arzneimittel eingesetzt und habe dazu beigetragen, Chemie umweltfreundlicher zu machen. Die Methode wird beispielsweise bei der Produktion des Mittels Letermovir gegen Cytomegaloviren angewandt.
Raffinierte Beschleuniger
Katalysatoren beschleunigen chemische Reaktionen, ohne dabei selbst verbraucht zu werden. Vereinfacht gesagt helfen sie dabei, dass sich Molekül A in Molekül B umwandelt. Die Bedeutung von Katalysatoren ist damit immens, praktisch kein chemischer Prozess in der Industrie kommt ohne sie aus.
Lange Zeit standen zwei Typen von Katalysatoren im Fokus: Metalle, die etwa zur Aufbereitung der Abgase im Auto verwendet werden, und Enzyme, die beispielsweise im Verdauungstrakt unsere Nahrung in kleinste Komponenten aufspalten.
Im Jahr 2000 veröffentlichten List, Direktor am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr, und MacMillan, der an der Princeton-Universität in den USA lehrt, unabhängig voneinander Studien, in denen sie Beispiele einer bis dato unterschätzten Methode vorstellten, die heute als asymmetrische Organokatalyse bekannt ist. Die beiden Forscher zeigten, dass einfache Moleküle, häufig gewonnen aus Naturstoffen, ähnlich effizient als Katalysatoren wirken wie Metalle. Dabei haben diese organischen Moleküle entscheidende Vorteile: Sie sind vergleichsweise billig, in der Regel unbedenklich für Mensch und Natur und lassen sich gut recyceln.
„Dieses Konzept der Katalyse ist so einfach wie genial. Tatsächlich haben sich viele Menschen gefragt, warum wir nicht früher darüber nachgedacht haben“, sagte Johan Åqvist vom Nobel-Komitee.
Unerwünschte Spiegelbilder
Die Organokatalyse an sich war vor dem Jahr 2000 nicht völlig neu. Aber sie hatte vor List und MacMillan ein entscheidendes Manko: Die Ausbeute des gewünschten Produkts war nicht groß genug. Zudem entstand oftmals das unerwünschte Spiegelbild des Moleküls, das aber ganz andere Eigenschaften haben kann. Dies kann insbesondere bei Medikamenten lebensgefährliche Folgen haben. List und MacMillan bekamen mit ihren Ansätzen dieses Problem in den Griff - und gaben damit den Startschuss für eine neue Klasse von Katalysatoren, wie Peter Schreiner von der Universität Gießen betonte. Åqvist drückte es so aus: „Seitdem ist das Feld völlig explodiert.“
List, ein Neffe der Medizin-Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard, zeigte, dass sich eine wichtige Reaktion zur Verbindung von zwei Kohlenstoffatomen (Aldol-Reaktion) durch die Aminosäure Prolin beschleunigen lässt - und dabei kaum das unerwünschte Spiegelbild des Zielmoleküls entsteht.
Faszination Molekul
„Das ist ein total faszinierendes Molekül“, sagte List in einem im Juni ausgestrahlten Interview über Prolin. Die beschleunigte Reaktion sei damals hochumkämpft gewesen. Sie werde gebraucht bei „unzähligen Transformationen, bei der Herstellung von Medikamenten, von Farbstoffen, von Polymeren, im Prinzip von allem, was Chemiker so machen auch technisch“.
MacMillan schaffte es, mit organischen Molekülen der sogenannten Diels-Alder-Reaktion Tempo zu verleihen. Chemiker nutzen diese Reaktion, um Ringe aus Kohlenstoffatomen zu bauen. In der Einleitung seiner Studie prägte MacMillan den Begriff Organokatalyse. Asymmetrisch ist der Vorgang, weil in der Hauptsache nur eines von zwei möglichen Spiegelbildern des Produkts entsteht.
Der deutsche Preisträger List saß gerade in einem Amsterdamer Café, als er telefonisch über seine Auszeichnung informiert wurde. „Als wir gerade bestellen wollten, sah ich auf dem Display so "Schweden". Ich guckte meine Frau an, wir lächelten uns ironisch an - "Haha, das ist der Anruf." Als Witz. Aber dann war es wirklich der Anruf. Es war echt unglaublich. Ein unglaublicher Moment.“
MacMillan dachte bei dem Anruf aus Schweden zunächst an einen Telefonscherz. Er habe einfach nicht glauben können, dass da wirklich die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften aus Stockholm anrufe und sei deswegen auch zunächst nicht ans Telefon gegangen, sagte MacMillan bei einer Pressekonferenz an der Princeton-Universität. Die Akademie hinterließ ihm daraufhin eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, hatte ihn aber noch nicht erreicht, als sie die Auszeichnungen verkündete. Nachdem er die Nachricht dann doch bekommen habe, fühle er sich „benommen, verwirrt, unglaublich aufgeregt, surreal und immer noch dabei, meine Füße wiederzufinden“, sagte der Forscher, der inzwischen neben der britischen auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt.
Die renommierteste Auszeichnung für Chemiker ist in diesem Jahr mit insgesamt zehn Millionen Kronen (rund 980 000 Euro) dotiert. Die feierliche Übergabe der Preise findet traditionsgemäß am 10. Dezember statt, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel.
Sieben Frauen geehrt
Seit 1901 wurde der Chemie-Nobelpreis an 185 verschiedene Forscher vergeben. Einer von ihnen, der Brite Frederick Sanger, erhielt ihn zweimal. Unter den Preisträgern waren bislang sieben Frauen, etwa Marie Curie 1911, die die radioaktiven Elemente Polonium und Radium entdeckte. 2020 ging er an die in Berlin arbeitende Französin Emmanuelle Charpentier und an die US-Forscherin Jennifer A. Doudna für die Entwicklung einer Genschere zur gezielten Erbgut-Veränderung.
Am Montag war der Nobelpreis für Medizin David Julius (USA) und dem im Libanon geborenen Forscher Ardem Patapoutian für Arbeiten zum Temperatur- und Tastsinn zugesprochen worden.
Am Dienstag war der Physik-Nobelpreis unter anderem dem Hamburger Meteorologen Klaus Hasselmann zuerkannt worden. Er teilt sich die eine Hälfte des Preises mit dem in Japan geborenen US-Amerikaner Syukuro Manabe. Beide haben eine solide physikalische Grundlage für unser Wissen über den Klimawandel geschaffen. Die andere Hälfte geht an den Italiener Giorgio Parisi für seine Arbeit zum Verstehen komplexer Systeme.
Am Donnerstag und Freitag folgen die Bekanntgaben der diesjährigen Nobelpreisträger für Literatur und für Frieden. Die Reihe endet am kommenden Montag, 11. Oktober, mit dem von der schwedischen Reichsbank gestifteten sogenannten Wirtschafts-Nobelpreis.
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