Altenahr/Insul/Rech (dpa)
Nach der Flut im Ahrtal: Tränen und Zukunftssorgen
Ein Vierteljahr nach der Sturzflut im Ahrtal mit 133 Toten ist den Menschen die traumatische Nacht noch deutlich anzumerken. Teile der Dörfer sind kaum mehr zu erkennen. Hinzu kommt Sorge um die Zukunft.
Der 80 Jahre alte Gerd Gasper und seine Frau Elfriede aus dem Ahrtal versuchen sich auf eine lange Übergangszeit einzustellen.
Die Winzerfamilie Stodden hat immer noch kein warmes Wasser. Manuela Göken und Daniel Schmitz haben neu angefangen. Der Lokführer Peter Filz muss jetzt eine andere Strecke fahren. Und Wolfgang Ewerts will Weihnachten wieder in seinem Haus feiern.
Drei Monate nach der Flutkatastrophe vom 14. auf den 15. Juli sind viele Häuser im Ahrtal abgerissen und große Teile der Dörfer nicht mehr zu erkennen. „Hier ist abends kein Mensch, und es brennt nirgendwo Licht“, sagt Gerd Gasper in seinem vollständig entkernten Haus in Altenahr-Altenburg. Viele Häuser oder Etagen wurden in den Rohbau zurückversetzt, überall laufen Trockengeräte. Müllberge werden geschreddert, freie Flächen planiert und das Ahr-Ufer stellenweise wieder hergestellt. Dazwischen pflanzen einige Menschen Blumen.
Die Horrornacht, in der die Wassermassen ihr gesamtes Hab und Gut vernichtet und mit dickem, übelriechendem Schlamm überzogen haben, kriegen die Gaspers nicht aus dem Kopf. „Es ist uns nichts geblieben, außer dem, was wir anhatten“, sagt Gerd Gasper und zeigt auf sein einziges Paar Schuhe. „Um das richtig zu verkraften, müsste man 20 Jahre jünger sein“, fügt der 80-Jährige hinzu. „Wir hatten alles fertig für den Lebensabend.“
Es werde noch mindestens einen Monat dauern, bis die Wände getrocknet seien. Dann müssten Handwerker gefunden werden. Für die gesamte Sanierung ihres Hauses müssten sie wohl mit eineinhalb bis zwei Jahren rechnen, sagt Elfriede Gasper. Solange kann das Paar bei seiner Tochter und deren Familie unterkommen - einige Kilometer von der Ahr entfernt. Weil dort aber nicht so viel Platz ist, übernachten die Gaspers in einer Ferienwohnung. Nach ihrem Haus schauen sie jeden Tag. Gerd Gaspers Elternhaus, gleich nebenan, in dem sein Bruder Bernd mit Frau gelebt hat, musste abgerissen werden.
Vielen Bewohnern der Katastrophenregion kommen immer wieder die Tränen, wenn sie erzählen, was sie erlebt und was sie vor sich haben. Sie liegen nachts wach und grübeln, wie es weitergeht, was sie als Nächstes tun können - und was sie mit dem Hilfsgeld wieder aufbauen können. „Ein ganzes Tal ist weg, auf über 40 Kilometern alles kaputt“, sagt Gasper. Mehr als 40 000 Menschen sind betroffen.
Die Rettung mit Hubschraubern erst am Nachmittag des 15. Julis steckt den Gaspers auch noch in den Knochen. Und dennoch: „Wir wollen zurück, wir sind schon über 50 Jahre hier“, sagt Elfriede Gasper. Das Paar hat seit Jahrzehnten eine Elementarschadenversicherung und bisher noch nie davon Gebrauch gemacht. Zahlt sich die Versicherung jetzt aus? „Man muss so viel nachweisen, aber man hat ja nichts mehr“, sagt Gerd Gasper. „Wir hoffen!“, sagt er traurig. „Wir können jeden Cent brauchen.“
Winzer Alexander Stodden und seine Familie aus dem Weinort Rech fahren zum Duschen 15 bis 20 Kilometer zu Bekannten. Die fünfköpfige Familie hat noch immer kein warmes Wasser, weil Ersatzteile für die Heizung fehlen. Das Internet ist schwach, Telefonieren über das Festnetz nach wie vor unmöglich, aber das Handy funktioniert.
Weil die Schule nicht mehr steht, müssen die Kinder ins gut 20 Kilometer entfernte Remagen. Unterricht ist in der Regel am Nachmittag, wenn die anderen Schüler schon frei haben, dazwischen auch immer wieder Homeschooling. „Aber mit dem Internet sind keine Videokonferenzen möglich“, sagt Stodden. Er sieht im Wiederaufbau auch eine Chance für das Ahrtal: „Wir können Vorbildregion werden!“ Insbesondere in puncto Nachhaltigkeit.
Die Schäden in seinem Familienbetrieb von 1900 - dem Rotweingut Jean Stodden - beziffert er auf rund 1,5 Millionen Euro. Zeit, um Anträge auf Wiederaufbauhilfe zu stellen, habe er nach der Entschlammung der Weinkeller und der Lese noch nicht gehabt, sagt Stodden. „Wir haben diesmal physisch in dem Zustand mit der Lese angefangen, in dem wir sonst aufgehört haben.“
Zudem habe er Ersatz für seine 150 Barriquefässer und die 20 großen Fässer besorgen müssen, die nach der Flut in den öligen Wassermassen schwammen. Die Anträge auf finanzielle Hilfe können nur online abgegeben werden, und dafür reiche das Internet auch noch nicht wieder. Finanziell sei noch vieles unklar: „Es heißt ja immer, man bekommt 80 Prozent, aber wovon? Vom Buchwert, vom Verkaufswert oder vom Neupreis?“
Peter Filz kommt jeden Tag an dem vom Wasser zerstörten Regionalzug vorbei, der seit dem Abend des 14. Juli auf dem Bahndamm am Bahnhof von Altenahr-Kreuzberg steht und nicht abtransportiert werden kann. „Wahrscheinlich muss der Hersteller kommen und den Zug vor Ort in Einzelteile zerlegen“, sagt Filz. Im Stellwerk des kleinen Bahnhofsgebäudes nebenan stinkt es noch nach öligem Schlamm.
Die zerstörte Strecke durch das idyllische Ahrtal war seine Stammstrecke und habe ihm besonders gut gefallen, sagt Lokführer Filz, der auch schon in anderen Teilen der Welt im Führerstand unterwegs war. „Sie war so schön und pittoresk und die Leute unglaublich nett.“
Sein Kollege habe die Regionalbahn am Abend der Flut gegen 20.00 Uhr abgestellt und die Katastrophen-Nacht mit viel Glück zusammen mit einem Nachbarn von Filz auf dem Dach eines Carports überlebt. Beleuchtete Wohnwagen vom direkt angrenzenden Campingplatz seien an ihnen vorbei getrieben und wenige Meter weiter an der Brücke zerschellt, in einigen hätten noch Menschen gesessen.
„Ich hatte Glück“, sagt Filz. Der Schock über die 133 Toten der Katastrophe, die vielen Verletzten, das Ausmaß der Zerstörung und das Leid sitzt dennoch tief. Er habe deshalb seinen Arbeitsbeginn auf einer anderen Bahnstrecke noch einmal abbrechen und verschieben müssen.
Manuela Göken und ihr Partner Daniel Schmitz haben ihr gemietetes und schwer beschädigtes Haus in Insul zehn Wochen lang entkernt. „16 Jahre kloppt man nicht einfach so in die Tonne und dazu die traumhaft schöne Gegend“, sagt die 50-Jährige. Dann sei aber klar geworden, dass es keine Versicherung gebe und sich die Sanierung des feuchten und kalten Hauses sehr lange hin ziehen werde.
Über die Plattform der Verbandsgemeinde, auf der auch Wohnraum angeboten wird, hätten sie deshalb zumindest etwas „für vorübergehend“ gesucht. Sie stießen auf ein Haus von 1920 mit Garten oberhalb der Ahr - etwa 20 Straßenkilometer und sechs Kilometer Luftlinie von Insul entfernt. „Von 200 auf 70 Quadratmeter und stark renovierungsbedürftig“, beschreibt Göken die Ausgangslage. „Es stand vier Jahre unbeheizt leer und wurde nur als Unterkunft für Jäger genutzt.“ Und trotzdem: „Wir haben uns blitzverliebt in das Haus.“
Seither stecken die beiden ihre gesamte freie Zeit in die Renovierung und haben einen Antrag auf Geld aus dem Wiederaufbaufonds gestellt. „Das ist aber sehr kompliziert, und ich bin so etwas gewöhnt“, sagt Göken. „Wie sollen das alte Menschen schaffen?“ Zwar gibt es überall im Ahrtal Infopoints, wo Spezialisten auch beim Ausfüllen der Anträge helfen, und jetzt auch zahlreiche Bürgerversammlungen. Doch längst nicht alle Betroffenen schaffen es dort hin.
Göken selbst ist optimistisch: „Wir weinen nur noch aus Euphorie und über das, was man zurückgelassen hat.“ Ein psychologischer Gesprächskreis habe ihr und ihrem Partner sehr gut getan. In der Flutnacht hatte sie ihn für tot gehalten - und über ein Foto der Deutschen Presse-Agentur im Internet erfahren, dass er lebt. Einen Schlussstrich unter das Leben an der Ahr hat Göken noch nicht gezogen: „Wir haben noch sehr viele Bekannte in Insul, wir sind da unten nicht weg.“
Hotelier Ewerts renoviert in Insul seinen eigenen Bungalow, ein Mietshaus sowie das Hotel mit Restaurant. „Es läuft, aber es braucht halt seine Zeit“, sagt er. Mit den beiden Häusern will er bis Weihnachten fertig sein. Seit der Flut wohnt er mit seiner Frau im Haus seiner gestorbenen Schwiegereltern im Nachbarort.
Im Erdgeschoss des Hotels ist inzwischen der Putz abgeschlagen, neue Fenster sind drin. Der älteste Teil des Gebäudekomplexes, sein Elternhaus, wurde wegen der Flutschäden nun doch abgerissen. Bis April soll aber alles wieder in Betrieb sein. „Sonst kriegen wir finanzielle Probleme.“
Die Versicherung habe einen Abschlag für das Hotel bezahlt, aber wie weit trägt der? Für seinen Biergarten habe er 5000 Euro bekommen. „Das reicht nicht mal für die Bestuhlung.“ Und für die beiden Wohnhäuser hat er keine Elementarschadenversicherung. Er sieht beim Finanziellen noch viele Fragezeichen. „Wenn wir alles rum haben, kann ich sagen, wie es finanziell gelaufen ist“, sagt Ewerts. „Wir sind ja zufrieden, wenn wir mit einem blauen Auge davonkommen.“
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