Frankfurt am Main (dpa)
Strubels „Blaue Frau“ ist mehr als ein MeToo-Roman
Die Autorin Antje Rávik Strubel hat mit der Geschichte einer jungen Osteuropäerin den Deutschen Buchpreis gewonnen. Adina bricht voller Hoffnung nach Deutschland auf, doch ein Verbrechen reißt sie in Stücke.
Am Anfang ist die junge Frau in einem desolaten Zustand: Sie betäubt sich mit Schnaps in einer fremden Wohnung in einem fremden Land, die Tür abgeschlossen und malt sich aus, wie sie im Gericht von Helsinki ihre Aussage machen wird.
Die Hände der Männer in Handschellen werden zittern, erhofft sie sich. Die junge Frau mit den drei Namen - Nina, Sala, Adina - ist traumatisiert und erlebt sich getrennt von der Welt, das wird im ersten Kapitel von Antje Rávik Strubels Roman „Blaue Frau“ schnell klar. Mit dieser Geschichte hat Strubel nun den Deutschen Buchpreis 2021 gewonnen, wie am Montag bekannt wurde.
Auf mehr als 420 Seiten entfaltet die 47-jährige Autorin nicht nur die MeToo-Geschichte einer Frau, die nach einem Weg sucht, wie sie nach einer Vergewaltigung weiterleben kann. „Blaue Frau“ handelt darüber hinaus von Machtstrukturen in Beziehungen, Institutionen und Staaten. Es geht um das Macht- und Mentalitätsgefälle zwischen Ost und West, um den Zusammenhang von Geld und Autorität, um Ausbeutung von Menschen im angeblich vereinten Europa des Jahres 2004.
Strubel behandle das Thema „mit existenzieller Wucht und poetischer Präzision“, urteilte die Jury des Deutschen Buchpreises am Montag. „Die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung weitet sich zu einer Reflexion über rivalisierende Erinnerungskulturen in Ost- und Westeuropa und Machtgefälle zwischen den Geschlechtern.“
Gekonnt wechselt die bereits mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnete Strubel die Zeitebenen und Schauplätze. Adina bricht aus dem tschechischen Skiort Harrachov nach Berlin auf, wird dort von der dominanten, faszinierenden Fotografin Rickie aufgegabelt und bald von ihr für ein Praktikum in die Uckermark geschickt, wo grenznah zu Polen mit Fördergeldern ein Kulturhaus entstehen soll.
Ein Verbrechen ändert alles, Adina flieht nach Finnland. In dem Hotel, wo sie einen prekären Job hat, trifft sie Professor Leonides, einen EU-Abgeordneten aus Estland. In der Beziehung zu dem älteren Mann flammt zunächst so etwas wie Hoffnung auf. Gespiegelt wird das Seelenleben der Figuren oft in Naturschilderungen. Eingeschobene lyrische Passagen mit mysteriösen Begegnungen mit einer blauen Frau am Hafen von Helsinki unterbrechen und reflektieren die Handlung. Die Identitäten der Erzählerin und Protagonistin verschwimmen zunehmend.
„Blaue Frau“ ist auch ein Entwicklungsroman. Beim Lesen stellt sich die Frage, wie sich Adina aus den Rollen lösen kann, die ihr verschiedene Männer, aber auch die queere Community um die Fotografin Rickie auferlegen. Ist der „Letzte Mohikaner“ ein Ausweg? So nannte sich die Tschechin als Jugendliche in Chats - in Anspielung darauf, dass sie der letzte einheimische Teenager in ihrem Dorf ist, in dem Skitouristen aus Deutschland und Russland den Ton angeben. Als „Mohikaner“ fühlt sie sich stark, frei und unabhängig.
Acht Jahre hat die in Potsdam lebende Schriftstellerin an „Blaue Frau“ gearbeitet, sie war als Stipendiatin in Los Angeles und Helsinki. Möglicherweise traf sie dabei selbst Kulturfunktionäre, die als Vorbild für die teils satirisch überzeichneten Figuren im Roman dienten. Das Besondere an „Blaue Frau“ ist, wie Strubel den individuellen Kampf einer vergewaltigten Frau und ihren Weg zur Selbstermächtigung mit grundsätzlichen Fragen zu Machtmissbrauch und Ausbeutung in Europa verbindet.
- Antje Rávik Strubel: Blaue Frau, Verlag S. Fischer, 428 Seiten, ISBN 978-3103971019.
© dpa-infocom, dpa:211018-99-643862/4