Berlin (dpa)
Debatte über mögliches Ende der Corona-Notlage
Nach eineinhalb Jahren soll der bundesweite Corona-Ausnahmezustand beendet werden, findet Noch-Gesundheitsminister Jens Spahn. Damit hat er eine breite Debatte ausgelöst.
Der Vorstoß von Gesundheitsminister Jens Spahn für eine Beendigung der Corona-Notlage in Deutschland ist auf Zustimmung und Kritik gestoßen.
Begrüßt wurde er von Ärzte- und Klinikvertretern. Auch die FDP bekräftigte noch einmal ihre schon lange vertretene Position, die sogenannte epidemische Lage nationaler Tragweite, nicht mehr zu verlängern. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach und die Deutsche Stiftung Patientenschutz warnten dagegen mit Blick auf den Winter vor einem solchen Schritt.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund unterstützte währenddessen den Vorstoß. „Den Ausnahmezustand nach bald zwei Jahren Pandemie weiter fortzuschreiben, halte ich für falsch“, sagte Verbandshauptgeschäftsführer Gerd Landsberg der „Rheinischen Post“. „Wie lange wollen wir das noch fortsetzen bei einer Impfquote von rund 80 Prozent?“, fragte Landsberg. Das bedeute ja nicht, dass Corona komplett vorbei sei. Aber es wäre „ein wichtiges Signal an die Menschen, die Gesellschaft und die Wirtschaft“. Sollte sich die Lage über den Winter wieder verschlimmern, könne der Bundestag sich erneut Gedanken machen.
Notlage bis zum 25. November
Die epidemische Lage ist Grundlage für Verordnungen und zentrale Corona-Maßnahmen in Deutschland. Sie wurde erstmalig vom Bundestag im März 2020 festgestellt und später immer wieder verlängert. Spahn hatte sich am Vortag bei Beratungen mit den Gesundheitsministern der Länder dafür ausgesprochen, dass es nicht zu einer erneuten Verlängerung kommt. Damit würde die bundesweite Corona-Notlage offiziell am 25. November auslaufen. Der CDU-Politiker verwies nach Informationen der „Bild“ unter anderem darauf, dass das Robert Koch-Institut (RKI) das Risiko für geimpfte Personen als moderat einstufe.
„Ich kann den Schritt nachvollziehen und halte das auch für unproblematisch“, sagte der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft Gerald Gaß dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Er rechne für den Herbst und Winter auch nicht mehr mit vergleichbar hohen Covid-Patientenzahlen in den Krankenhäusern wie in der zurückliegenden Zeit. „Besser spät als nie“, sagte der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, bei „Welt“. Das Auslaufen mache Sinn. Die Bedrohung der Bevölkerung, die der Grund für diese Regelung gewesen sei, bestehe nicht mehr.
Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, sagte der „Neuen Westfälischen“, die meisten Menschen der besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen seien geimpft, die Situation in den Krankenhäusern sei stabil. Er finde es richtig, „dass wir jetzt eine Debatte darüber führen, wann und wie wir die Beschränkungen des öffentlichen Lebens beenden können“.
Der FDP-Gesundheitsexperte und Infektiologe Andrew Ullmann schrieb bei Twitter. „Die epidemische Lage von nationaler Tragweite kann enden, hätte längst beendet sein können. Wichtig sind jetzt Boosterimpfungen bei vulnerablen Personen.“ Die FDP hatte, wie auch ihr voraussichtlicher künftiger Koalitionspartner, die Grünen, bereits im August bei der letzten Abstimmung im Bundestag über die Verlängerung der epidemischen Lage mit Nein gestimmt.
Der Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen zeigte sich dennoch zurückhaltend: „Entscheidender als emotionale Debatten über die Verlängerung der epidemischen Lage ist im Ergebnis die konsequente und flächendeckende Umsetzung einfacher und wirkungsvoller Schutzmaßnahmen in Herbst und Winter“, sagte er der dpa. „Wir sind dank der Impfung einen großen Schritt weiter, aber die Pandemie ist keinesfalls vorbei.“ Dahmen geht davon aus, dass Maskenpflicht und Vorgaben wie die 3G-Regel voraussichtlich bis zum Frühjahr bestehen bleiben müssen.
Lauterbach gegen Notlage-Aus
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach nannte den Vorstoß von Spahn ein „falsches Signal“. „Es klingt nach "Freedom Day" durch den Minister“, schrieb er bei Twitter. Der Begriff „Freedom Day“ stammt aus England, wo am 19. Juli die Corona-Maßnahmen weitgehend aufgehoben wurden. Der Winter werde als Covid-Problem unterschätzt, sagte Lauterbach. Es brauche mehr Erfolg beim Impfen, eine sinkende Inzidenz, und einen Schutz der Kinder. „Nach Erfolg kann der Bundestag die Epidemie beenden.“
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz Eugen Brysch nannte es „gefährlich, allein aus fragwürdigem politischen Kalkül die epidemische Lage zu beenden. Schließlich ist die Pandemie nicht vorbei“, sagte er dpa. Aktuell würden mehr über 80-jährige Corona-Infizierte im Krankenhaus behandelt als vor einem Jahr, obwohl die meisten in dieser Altersgruppe geimpft seien.
Auch die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Immunologie Christine Falk zeigte sich skeptisch: Die Infektionszahlen in Deutschland seien zu hoch und dürften weiter steigen, die Impfquote sei zu niedrig, sagte sie der dpa. Die Ankündigung, die epidemische Lage nationaler Tragweite auslaufen lassen zu wollen, könne in der Bevölkerung als Entwarnung missverstanden werden. „Das wäre ein kontraproduktives Signal an alle, die noch mit der Impfung zögern.“
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