Brüssel (dpa)
Justizstreit mit Polen stellt EU vor Zerreißprobe
In Brüssel geht es nicht gerade besonders harmonisch zu. Es fallen Worte wie „Erpressung“ und „Hexenjagd“. Der Justizstreit mit Polen geht an die Substanz der Union.
Der erbitterte Streit über Polens Haltung zum EU-Recht stellt die Europäische Union vor eine Zerreißprobe.
Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki ließ beim EU-Gipfel in Brüssel keinerlei Entgegenkommen erkennen und betonte erneut, dass sein Land sich nicht erpressen lasse. Unterstützung bekam er von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, der von einer „Hexenjagd“ gegen Polen sprach. Andere Länder wie die Niederlande forderten hingegen stärkeren Druck auf Warschau. Und Kanzlerin Angela Merkel will vermitteln.
Zweites wichtiges Thema des bis Freitag dauernden Gipfels waren die steigenden Energiepreise. Die EU-Kommission hat als Optionen dagegen unter anderem Steuersenkungen, Zahlungen an betroffene Haushalte oder Subventionen für kleine Unternehmen vorgeschlagen. Staaten wie Spanien oder Frankreich fordern allerdings tiefergreifende europäische Maßnahmen, etwa eine Reform der Strommarktes. Die Bundesregierung ist bislang skeptisch.
Deutschland werde den Markt „nicht vollkommen ausschalten“, sondern „für mehr Markt sorgen“, sagte Merkel. Zusätzlich könne man gegebenenfalls weitere soziale Stützungsmaßnahmen ergreifen. Die Bundesregierung hatte bereits vor der aktuellen Debatte Maßnahmen ergriffen, um Haushalte zu entlasten. Dazu gehört neben dem Wohngeld auch eine Senkung der EEG-Umlage zur Förderung des Ökostroms aus staatlichen Mitteln und eine Erhöhung der Pendlerpauschale.
Für Merkel ist es wahrscheinlich der letzte von mehr als 100 EU-Gipfeln. Zum Zeitpunkt des nächsten Treffens der Staats- und Regierungschefs Mitte Dezember soll nach derzeitiger Planung von SPD, Grünen und FDP schon Olaf Scholz als Nachfolger Merkels vereidigt sein. Für Donnerstagabend war eine kurze Abschiedszeremonie für die Kanzlerin geplant.
Im Justizstreit versuchte die Kanzlerin eine Moderatorenrolle einzunehmen. „Rechtsstaatlichkeit ist ein Kern des Bestands der Europäischen Union“, sagte Merkel. „Auf der anderen Seite müssen wir Wege und Möglichkeiten finden, hier wieder zusammenzukommen.“ Eine Kaskade von Rechtsstreitigkeiten vor dem Europäischen Gerichtshof sei noch keine Lösung des Problems. Merkel spielte damit darauf an, dass die EU-Kommission Polen unter anderem wegen der Justizreformen mehrfach vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt hat.
Morawiecki legte nun nach: Bestimmte EU-Institutionen wie die Kommission und der Europäische Gerichtshof hätten sich Kompetenzen angeeignet, die ihnen in den EU-Verträgen nicht gewährt worden seien. „Das war nicht die Vereinbarung. Und deshalb wird weder die polnische Regierung noch das polnische Parlament in diesen Angelegenheit unter dem Druck von Erpressung handeln.“
Was Morawiecki unter Erpressung versteht, dürfte von der Leyens Ankündigung sein, milliardenschwere EU-Corona-Hilfen für Polen solange zu blockieren, bis das Land bestimmte Justizreformen zurückgenommen hat. Offen für dieses Vorgehen zeigten sich am Donnerstag etwa die Regierungschefs der Niederlande, von Belgien und Luxemburg. Auch andere Staaten wie Irland äußerten große Besorgnis angesichts der Entwicklung in Polen.
Öffentliche Unterstützung für seine unnachgiebige Haltung bekam Morawiecki hingegen vom ungarischen Regierungschef Viktor Orban. Auch der rechtsnationale Politiker beklagte eine „schleichende Kompetenzerweiterung“ zugunsten der Brüsseler Gremien, die es zu stoppen gelte. „Die Polen haben lediglich den Mut gefasst, diese Schlacht zu eröffnen.“
Der Streit geht also an die Substanz der EU, wie auch Kanzlerin Merkel betonte, die vor dem Gipfel noch zu einem persönlichen Gespräch mit Morawiecki zusammenkam. Es gehe um die Frage: „Wie stellen sich die einzelnen Mitglieder die Europäische Union vor?“, sagte Merkel. Auf der einen Seite nannte sie eine EU, die immer enger zusammenrücke, auf der anderen Seite mehr Nationalstaatlichkeit. Dies sei nicht nur ein Thema zwischen Polen und der EU, sondern werde auch in anderen Staaten diskutiert.
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