Schicksal im Flutgebiet

Drei Monate nach der Flut steht die Zeit noch still

Sonja Essers und Michael Grobusch
|
Von Sonja Essers und Michael Grobusch
| 27.10.2021 11:03 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
Bauschutt und Müll prägen das Bild des Stolberger Stadtteils Mühle – auch drei Monate nach der Flut. Foto: Grobusch
Bauschutt und Müll prägen das Bild des Stolberger Stadtteils Mühle – auch drei Monate nach der Flut. Foto: Grobusch
Artikel teilen:

Diese Zeitung sammelt Spenden für Hochwasseropfer in Stolberg und Eschweiler. Drei Monate nach dem Hochwasser steht die Zeit im Stolberger Stadtteil Mühle still. Nur ein Geschäft hat wieder geöffnet.

Gemeinsam mit der Aachener Zeitung (AZ) hat diese Zeitung Spenden für die Flutopfer in der Region Stolberg/Eschweiler gesammelt. Näheres dazu lesen Sie im zweiten Text auf dieser Seite. Dieser Artikel ist in der AZ erschienen.

Stolberg - An diesem Nachmittag wirkt alles grau und trostlos im Stadtteil Mühle in Stolberg. Dabei scheint zwischendurch sogar die Sonne. Dort, wo sonst das Leben pulsiert und Menschen aus vielen unterschiedlichen Herkunftsländern ihrem Alltag nachgehen, ist es leise. Fast niemand ist auf den Straßen unterwegs. Es herrscht eine gespenstische Ruhe. Die Erdgeschosse nahezu aller Häuser sind zerstört und deshalb unbewohnt und ungenutzt. Einige Fenster und Türen sind mit Holzplatten verschlossen. In anderen Gebäuden hat man sich für Bauzäune entschieden. Sie sollen Menschen davon abhalten, einen Blick hinter die Fassade zu werfen. Doch viele Räume und Ladenlokale liegen einfach offen zur Straße, in einem Lebensmittelladen steht die Türe zum Kühlraum auf. Es macht den Anschein, als wären die Menschen geflüchtet – vor dem Hochwasser und der Verwüstung, die es mit sich gebracht hat – und seitdem nicht mehr wiedergekommen.

Wer bekommt die Spenden?

Ostfrieslandweb - Bei der Spendenaktion von „Ein Herz für Ostfriesland“ zugunsten von Hochwasseropfern in Nordrhein-Westfalen ist eine beeindruckende Summe gespendet worden: Rund 295.000 Euro haben die Leser von Ostfriesen-Zeitung, General-Anzeiger und Ostfriesische Nachrichten auf das Konto des Hilfswerks überwiesen.

Jetzt geht es an die Verteilung des Geldes. In dieser Woche sind Uwe Boden, Geschäftsführer von „Ein Herz für Ostfriesland“, und Volontärin Hannah Weiden unterwegs, um sich in Eschweiler und Stolberg über die Initiativen zu informieren und mit Verantwortlichen zu sprechen. Ab Sonnabend werden wir berichten und die Empfänger der Spenden vorstellen.

Drei Monate nach der verheerenden Flut ist auf der Mühle, wie man in Stolberg sagt, die Zeit stehengeblieben. Müllsäcke, Container und Bauschutt prägen das Straßenbild. Hin und wieder hört man das kreischende Geräusch eines Presslufthammers. Doch im Gegensatz zu anderen betroffenen Stadtteilen ist das hier die absolute Ausnahme. Der prachtvolle Kupferhof ist genauso verlassen wie die nur wenige Meter entfernte Kindertagesstätte für spanische Kinder. Wie hoch das Wasser am 14. und 15. Juli gestanden hat, zeigt sich an nahezu jedem Gebäude.

Die Not vor dem Winter

Von Normalität ist man hier noch ganz weit entfernt. „In fast allen Häusern gibt es keine funktionierende Heizung und kein warmes Wasser. Und viele Menschen harren in ihren Wohnungen aus, obwohl sie nass und verschimmelt sind“, zeichnet Enrique Ulfig ein düsteres Bild von der aktuellen Lage. Ulfig weiß, wovon er spricht, auch wenn er mittlerweile auf dem Donnerberg wohnt. „Meine Wurzeln liegen hier auf der Mühle.“ Deshalb habe er auch den Vorsitz der Interessengemeinschaft übernommen, die sich in dem Stadtteil gegründet hat. „Wir brauchen dringend Heizungen und Trockengeräte“, weiß Ulfig, was mit Blick auf den bevorstehenden Winter vorrangig benötigt wird. Rund 500 Radiatoren habe die IG bereits organisiert und an die Menschen auf der Mühle verteilt. Doch auch das hat zwei große Haken, räumt er ein: Zum einen ist zu befürchten, dass die Elektroinstallationen in vielen Häusern durch den Betrieb der Geräte überlastet werden und versagen. Zum anderen birgt der hohe Stromverbrauch noch ein anderes Risiko: Er kostet viel Geld und könnte damit viele Betroffene finanziell überfordern.

Wie weit die Mühle von Normalität entfernt ist, wird auch auf dem Jordanplatz deutlich. In einem kleinen Zelt sind 19 Waschmaschinen und Trockner zu finden. „Aber längst nicht alle funktionieren“, sagt eine Anwohnerin der Salmstraße, während sie ihre Wäsche aus dem Plastikbeutel nimmt und in die Trommel stopft. „Einige stecken einfach alles rein“, erzählt sie und zeigt auf ein Paar Schuhe, das auf einer Maschine steht. Wenn sie über die Flut und ihre Erlebnisse in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli spricht, wühlt sie das nach wie vor erkennbar auf – auch drei Monate später. „Ich hatte so große Angst, ich habe gedacht, ich würde sterben“, sagt sie und kämpft mit den Tränen. Ihren Namen möchte sie wohl auch deshalb nicht in der Zeitung lesen.

Das Geld fehlt

Für Emine Erboz und ihre Familie hat das Hochwasser ebenfalls das Leben auf den Kopf gestellt. Einen kleinen Kosmetikladen hatte sie sich an der Eisenbahnstraße aufgebaut. Mitte dieses Jahres habe sie noch geglaubt, die Coronavirus-Pandemie überstanden zu haben. Doch dann kam das Wasser und zerstörte ihr Geschäft, die Produkte und Behandlungsräume. Auch der Keller stand bis zur Decke unter Wasser. Seitdem wäscht sie die Wäsche am Jordanplatz. Beschweren will sie sich nicht. „Natürlich könnte ich weinen. Aber was nützt mir das denn?“, sagt sie, während sie den anderen Frauen beim Bedienen der Waschmaschine hilft. In der Not hält man zusammen.

Das gilt auch für die Mühle. Die Geschäfte sind vom Hochwasser nahezu ausnahmslos zerstört worden. Geschlossen sind sie auch drei Monate danach alle, hergerichtet werden bis dato nur ganz wenige. „Die meisten Hauseigentümer hatten keine Elementarversicherungen. Ihnen fehlt schlichtweg das Geld, um die Wohnungen und Ladenlokale zu sanieren“, berichtet Enrique Ulfig. Einige von ihnen hätten ein bisschen gespart. „20.000 oder 30.000 Euro vielleicht. Aber so ein zerstörtes Haus wieder aufzubauen, kostet ein Vielfaches. Das kann sich hier fast niemand leisten.“

Ein Geschäft hat geöffnet

Der Besitzer eines Imbisses an der Salmstraße hatte scheinbar Glück. Er verkauft wieder Dönerfleisch, Pizza und Salat – als einziger im Stadtteil. „Die Gutachter haben gesagt, dass so weit alles in Ordnung ist“, freut sich Mitarbeiter Metin Öztal. „Und wir haben richtig viel zu tun, weil viele Menschen zu Hause nicht mehr kochen können. Aber das ist natürlich sehr traurig.“

Traurig wirkt auch Enrique Ulfig. Vor allem dann, wenn man ihn fragt, welche Perspektive er für die Mühle sieht. „Es geht nur sehr schleppend voran. Viele Geschäftsräume und Wohnungen werden wohl frühestens in zwei Jahren wieder genutzt werden können. Wenn sie denn überhaupt noch mal genutzt werden.“

Anlaufstelle für Menschen, die Hilfe brauchen, ist unter anderem das Stadtteilmanagement. Die Räume an der Salmstraße fielen der Flut zum Opfer. In einem Container auf der Frankentalwiese kümmern sich Doris Ganser und ihr Kollege Jens Rattay jetzt um die Probleme der Bewohner der Mühle. „Es gibt noch viel zu tun“, weiß Ganser. „Und da muss ganz schnell ganz viel passieren“, ist sie mit Blick auf die auch von Enrique Ulfig beschriebenen Zustände und den nahenden Winter sicher. „Nicht nur die Wohnungen und Häuser müssen wieder hergerichtet werden, sondern auch die Seelen der Menschen.“

Information zur Spendenaktion für die Betroffenen des Hochwassers in Eschweiler und Stolberg gibt es hier.

Ähnliche Artikel