Berlin (dpa)

Boom vertagt: Wirtschaftsaufschwung erst 2022

| 27.10.2021 11:17 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
Die Kräne verschiedener Baustellen in der Hamburger Hafencity zeichnen sich im Sonnenuntergang vor der Elbphilharmonie ab. Foto: Christian Charisius/dpa
Die Kräne verschiedener Baustellen in der Hamburger Hafencity zeichnen sich im Sonnenuntergang vor der Elbphilharmonie ab. Foto: Christian Charisius/dpa
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Es sollte eine „V“-Kurve werden: Einem tiefen coronabedingten Absturz folgt ein anhaltender steiler Aufstieg. Es ist anders gekommen. Die Kurve hat sich abgeflacht.

Die Bundesregierung rechnet erst im nächsten Jahr wieder mit einem kräftigen Wirtschaftsaufschwung in Deutschland. Der geschäftsführende Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sprach am Mittwoch in Berlin von einem „kühlen Herbstwind“.

Lieferengpässe bei wichtigen Produkten wie Mikrochips bremsten die Wirtschaft. Eine Gefahr für die weitere Entwicklung könnten auch die steigenden Zahlen bei den Corona-Neuinfektionen werden.

Die Bundesregierung schraubte ihre Wachstumserwartungen für 2021 herunter. Sie erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt um 2,6 Prozent zulegt - im April war noch ein Plus von 3,5 Prozent vorhergesagt worden. Zuvor hatten auch führende Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Prognose gesenkt.

Im vergangenen Jahr war die Wirtschaftsleistung infolge der Pandemie um 4,9 Prozent eingebrochen. Es sei aber gelungen, die Substanz der deutschen Volkswirtschaft zu erhalten, sagte Altmaier. Er verwies auf staatliche Milliardenhilfen für Unternehmen. Deutschland sei nach der Corona-Krise wieder auf dem Wachstumspfad. In diesem Jahr komme es angesichts der aktuellen Lieferengpässe und weltweit hoher Energiepreise aber nicht zum erhofften „Schlussspurt“.

Fahrtwind für nächstes Jahr erwartet

Im kommenden Jahr wird die Wirtschaft laut Prognose deutlich an Fahrt aufnehmen. Für 2022 rechnet die Bundesregierung nun mit einem Wachstum von 4,1 Prozent statt wie bisher 3,6 Prozent. 2023 wird ein Plus von 1,6 Prozent erwartet. Altmaier sagte, Ende des ersten Quartals 2022 werde die deutsche Wirtschaft die Leistungsstärke vor der Corona-Krise wieder erreicht haben - ein Quartal später als ursprünglich angenommen.

Allerdings gibt es Risiken. Deutschland stehe vor einem zweiten Pandemie-Winter, sagte Altmaier. Es sei möglich, dass die hohen Infektionszahlen dazu führten, dass es negative Auswirkungen für die Wirtschaft gebe, auch wenn kein Lockdown verhängt werden müsse.

Die Frage ist auch, wann sich die Lieferengpässe auflösen, welche die wirtschaftliche Aufholjagd derzeit bremsen. Altmaier sprach von einer historisch einmaligen Knappheit an Vorleistungsgütern. Die Nachfrage nach deutschen Produkten auf den Weltmärkten bleibe aber nach wie vor hoch: „Wenn sich die Lieferengpässe schrittweise auflösen, kommt es in 2022 zu deutlichen Aufholeffekten.“

Weiter Materialknappheit

Die Auftragsbücher vieler Unternehmen sind derzeit eigentlich gut gefüllt. Mangels vielerorts fehlender Vorleistungsgüter werde die Produktion aber wohl auch im vierten Quartal weiter zurückgefahren werden müssen, sagte Simon Junker, Konjunkturexperte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Das Institut sprach von einer Winterflaute. Altmaier bekräftigte das Ziel, bei wichtigen Produkten wie Mikrochips die Fertigung in Deutschland auszubauen.

Zu schaffen machen Firmen und Verbrauchern auch gestiegene Energiepreise. Das Wirtschaftsministerium geht davon aus, dass sich die Energiepreise konsolidieren und sie teilweise auch sinken werden, wie Altmaier sagte. Beim Gas gebe es im Winter Versorgungssicherheit. Der Minister sprach sich erneut dafür aus, die Bürger bei den Strompreisen zu entlasten. Entscheiden müsse dies aber die neue Regierung.

Eine leichte Entwarnung gab Altmaier bei der Inflation. Die Regierung erwartet, dass die Inflationsrate bereits zum Jahreswechsel 2021/22 wieder ein deutlich niedrigeres Niveau erreicht - weil dann Sonderfaktoren wegfallen wie die Rücknahme der vorübergehenden Mehrwertsteuersenkung des zweiten Halbjahres 2020. Diese schlägt inzwischen voll auf die Teuerung durch. Seit Januar gelten wieder die regulären Mehrwertsteuersätze. Waren und Dienstleistungen werden also tendenziell teurer.

In ihrer Herbstprojektion rechnet die Bundesregierung mit Inflationsraten von 3,0 Prozent im Jahr 2021 und 2,2 Prozent im Jahr 2022. Im September lag die Inflationsrate angeheizt vor allem von höheren Energiekosten bei 4,1 Prozent.

Appelle an die neue Koalition

Spitzenverbände der Wirtschaft appellierten angesichts der gesenkten Herbstprognose an die mögliche neue Koalition aus SPD, Grüne und FDP, Firmen zu entlasten. So sagte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Joachim Lang: „Der stotternde Wirtschaftsmotor muss ein Weckruf für die Koalitionsverhandlungen sein.“

Die aktuelle wirtschaftliche Lage hat auch Folgen für die Verbraucherinnen und Verbraucher. „Die hohen Energiepreise verringern die real verfügbaren Einkommen der Haushalte, was den Konsum vorübergehend dämpft“, so Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Die steigende Covid-Infektionsdynamik dürfte über den Winter zur Zurückhaltung der Konsumenten etwa in der Gastronomie und Freizeitwirtschaft führen; auch könnte es erneut zu Beschränkungen kommen.

Bemerkbar bei den Verbrauchern machen sich auch die Lieferengpässe. Sie müssten länger auf Güter warten, sagte Altmaier. Auch er selbst hat das zu spüren bekommen. Der Minister scheidet mit der Bildung einer neuen Regierung aus dem Amt und will sich privat ein neues Auto anschaffen, wie er erzählt - er habe aber feststellen müssen, dass es schwierig sei, überhaupt einen Liefertermin zu bekommen.

© dpa-infocom, dpa:211027-99-754146/4

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