Berlin (dpa)
Inzidenz steigt - Politiker fordern „Booster-Gipfel“
Die vierte Corona-Welle rollt, fast alle Parameter sind bereits jetzt höher als vor einem Jahr - und der Winter kommt erst noch. Nicht nur die scheidende Kanzlerin warnt vor Leichtfertigkeit.
Der starke Anstieg der Corona-Fallzahlen heizt die Diskussion über raschere Auffrischungsimpfungen vor dem Winter an.
Bund und Länder sollten darüber bei einem Gipfel beraten, forderten am Wochenende sowohl Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und CSU-Chef Markus Söder als auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Die Sorge vor einer erneuten Überlastung der Krankenhäuser wächst. Auch die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) warnte vor Leichtfertigkeit im Umgang mit der Pandemie.
Die Zahl der Geimpften steigt nur noch langsam. Eine Auffrischungsimpfung gegen die mit der Zeit nachlassende Wirkung des Impfstoffes nehmen viel weniger Menschen wahr, als es könnten. Vor allem Risikogruppen wird die Auffrischung empfohlen. „Aktuelle Daten aus Israel zeigen, dass das Boostern einen ganz entscheidenden Unterschied macht, um die vierte Welle zu brechen“, sagte der geschäftsführende Gesundheitsminister Spahn der „Bild am Sonntag“ („BamS“). „Wir brauchen einen Booster-Gipfel von Bund und Ländern.“
Lauterbach verlangte ein Bund-Länder-Treffen um zu klären, wie viele Auffrischungsimpfungen bisher erfolgt sind und wie das Tempo erhöht werden kann. „Wir haben bisher keinen vollständigen nationalen Überblick, wie viele Booster-Impfungen es in den Pflegeeinrichtungen überhaupt schon gegeben hat“, sagte er dem „Tagesspiegel“. „Es muss jetzt, sehr schnell gehen.“ Durch die Koalitionsverhandlungen von SPD, Grünen und FDP dürfe es keinen Schwebezustand geben.
Bayerns Ministerpräsident Söder forderte ein Treffen, um vor dem bevorstehenden Regierungswechsel die Corona-Politik von Bund und Ländern stärker abzustimmen. „Wir müssen uns auch über die Drittimpfungen unterhalten, über Kontrollen reden und Maßnahmen gegen das Fälschen von Impfausweisen planen“, sagte er der „BamS“. „Die Ampel-Parteien müssen sich mit den Ländern beraten. Angela Merkel hätte die Länder nie einfach mit einer Vorgabe überrascht, sondern hätte darüber mit ihnen geredet.“
FDP-Chef Christian Lindner verteidigte die Entscheidung der Parteien, die gesetzliche Sonderlage wegen der Corona-Pandemie zum 25. November auslaufen lassen. „Der Staat ist weiter handlungsfähig. Aber besonders intensive Eingriffe wie Lockdowns und Ausgangssperren sind angesichts des Pandemiegeschehens nicht mehr angemessen“, sagte er der „Rheinischen Post“ (Montag). Leichte Maßnahmen wie die Maskenpflicht blieben erhalten, Schulschließungen seien dagegen nicht mehr vorgesehen. Auch er drang auf mehr Auffrischungsimpfungen.
Das Bundesgesundheitsministerium wies am Samstag darauf hin, dass grundsätzlich laut Impfverordnung alle Bürger Anspruch auf die Auffrischungsimpfungen haben. Söder sagte: „Die Booster-Impfungen brauchen wir nicht nur für die über 70-Jährigen, sondern für alle.“
Der Hausärzteverband hatte zuvor Spahns Aufruf kritisiert. „Die Hausärzte folgen der Empfehlung der Ständigen Impfkommission, und diese empfiehlt aktuell Drittimpfungen nur für über 70-Jährige und wenige andere Gruppen“, sagte das Vorstandsmitglied Armin Beck dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Wir sind verärgert, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Erwartungen schürt, Booster-Impfungen seien für alle möglich.“
Lauterbach forderte via Twitter eine Kampagne zur Auffrischungsimpfung für Menschen über 70. Er schlug vor, die vielfach geschlossenen Impfzentren wieder zu öffnen.
Der Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen forderte einen Strategiewechsel. Dem „Handelsblatt“ sagte er: „Wir müssen den Impfstoff zu den Menschen bringen und nicht umgekehrt. Dahmen regte an, das bisher in den stationären Impfzentren tätige Impfpersonal zu reaktivieren und vollständig für mobile Angebote einzusetzen. „Wir brauchen deutschlandweit Impfbusse und mehr mobile Teams“, sagte er. „Es ist dringend geboten, das Impftempo zu forcieren.“
Viele Corona-Parameter liegen bereits deutlich höher als zur gleichen Zeit vor einem Jahr. Am Sonntag meldete das Robert Koch-Institut (RKI) 16.887 Neuinfektionen und einen Sieben-Tage-Wert je 100.000 Einwohner von 149,4 - vor einer Woche hatte dieser bei 106,3 gelegen, vor genau einem Jahr bei 110,9. Das DIVI-Register verzeichnete am Samstag 1932 Corona-Patienten auf Intensivstationen - 64 mehr als am Vortag, 93 mehr als letztes Jahr. Bis Sonntagfrüh wurden binnen 24 Stunden 33 Todesfälle verzeichnet, nach 23 vor einer Woche.
Zwar sind inzwischen zwei Drittel der Bevölkerung voll geimpft, entsprechend höher ist aber das Risiko durch und für Ungeimpfte. Um die Pandemie einzudämmen, wäre laut RKI eine Impfrate von 85 bis 90 Prozent bei über Zwölfjährigen nötig - ergänzt durch Auffrischungen.
Kanzlerin Merkel äußerte „große Sorgen“ wegen der Hospitalisierungs- und Todeszahlen. Sie steht weiter dazu, dass es keine Impfpflicht gibt, wie sie der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ sagte. „Aber dass zum Beispiel noch zwei, drei Millionen Deutsche über 60 ungeimpft sind, stimmt mich sehr traurig, weil das einen Unterschied machen könnte für sie persönlich wie für die ganze Gesellschaft.“
Ärztepräsident Klaus Reinhardt sagte der Deutschen Presse-Agentur, das medizinische Personal sei an der Belastungsgrenze, und niemand wolle erneut erleben, dass planbare Operationen abgesagt werden müssten. „Das sollten sich auch diejenigen vergegenwärtigen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, noch nicht geimpft haben.“ Als zusätzlichen Anreiz für die Ungeimpften plädierte er dafür, dass alle Bundesländer für Gastgewerbe, Sport und Veranstaltungen als Option 2G - nur für Geimpfte und Genesene - einführen.
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