Karlsruhe/Hanau (dpa)

Nach Ende der Hanau-Ermittlungen bleiben Fragen offen

Christine Schultze, dpa
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Von Christine Schultze, dpa
| 16.12.2021 10:32 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
Angehörige der Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau 2020 halten bei einer Mahnwache Fotos der Opfer. Foto: Arne Dedert/dpa
Angehörige der Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau 2020 halten bei einer Mahnwache Fotos der Opfer. Foto: Arne Dedert/dpa
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Keine Mitwisser, keine Gehilfen - für die Ermittler war der Attentäter von Hanau ein Einzeltäter mit rassistischen Motiven. Aus Sicht der Angehörigen ändert das nichts am Vorwurf des Behördenversagens.

In nur sechs Minuten hat der Attentäter von Hanau vor knapp zwei Jahren neun Menschen erschossen. Seither lasten Trauer, Schmerz und Wut schwer auf dem Leben der Hinterbliebenen.

Warum hat niemand Tobias R. gestoppt, der vor seiner Tat wirre Pamphlete und Videos mit Verschwörungstheorien und rassistischen Ansichten im Netz veröffentlichte? Warum durfte er Waffen besitzen, obwohl er unter Wahnvorstellungen litt? Und welche Rolle hat der in der Tatnacht überlastete Hanauer Polizei-Notruf 110 gespielt? Auch wenn die Bundesanwaltschaft die Ermittlungsakten zu dem Anschlag vom 19. Februar 2020 nun schließt, bleiben diese Fragen aus Sicht der Angehörigen offen.

An mehreren Tatorten in Hanau hatte der 43-jährige Deutsche Tobias R. an jenem Abend neun Menschen aus rassistischen Motiven erschossen. Danach kehrte er nach Erkenntnissen der Ermittler in sein Elternhaus in der Stadt im Osten des Rhein-Main-Gebiets zurück, tötete seine Mutter und nahm sich selbst das Leben.

Nach Überzeugung der Ermittler handelte Tobias R. allein

Knapp zwei Jahre lang haben Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt den Täter, seine Motivation und Hintergründe sowie Kontaktpersonen durchleuchtet. Rund 300 Hinweisen und Spuren gingen sie nach, 400 Zeugen wurden vernommen und Hunderte Asservate untersucht. Nach Überzeugung der Ermittler handelte Tobias R. allein, ohne Mitwisser oder Gehilfen. Auch Anhaltspunkte für eine Tatbeteiligung seines Vaters sieht die Bundesanwaltschaft nicht.

Die „Initiative 19. Februar Hanau“, in der sich Opfer-Familien und Überlebende zusammengeschlossen hatten, will das in einer ersten Reaktion am Donnerstag so nicht stehen lassen. „Wir sehen nicht, dass die Rolle des Vaters des Täters in der Tatnacht ausermittelt ist“, erklärt sie. Vielmehr hätten sich im Zusammenhang mit dem Prozess wegen Beleidigung gegen den Vater im Oktober neue Hinweise darauf ergeben, wie offensiv dieser das rassistische Weltbild seines Sohnes geteilt habe.

In dem Aufsehen erregenden Verfahren war der Mann vom Amtsgericht Hanau zu 5400 Euro Geldstrafe verurteilt worden. Angeklagt war er wegen Beleidigung in drei Fällen, es ging um Äußerungen in einer Anzeige und zwei Schreiben. Die Vorsitzende Richterin hatte dem Mann mit Blick auf einen der Vorwürfe ein „rassistisches Gedankengut“ bescheinigt. Nachdem sowohl er als auch die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt haben, dürfte das Verfahren vor dem Landgericht Hanau in die nächste Instanz gehen.

Rolle des Vaters sei „umfassend beleuchtet“ worden

Die Bundesanwaltschaft selbst erklärt, man habe die Rolle des Vaters von Tobias R. im Rahmen der Ermittlungen umfassend beleuchtet. Es hätten sich keine Verdachtsmomente ergeben, „dass der Vater des Attentäters in irgendeiner Weise an den Tötungen beteiligt war oder auch nur im Vorfeld Kenntnis von ihnen erlangt hatte“, so die Ermittler. Tobias R. habe - ungeachtet psychischer Beeinträchtigungen - „ein selbstbestimmtes Leben“ geführt. Laut einem posthum erstellten Gutachten soll er an einer paranoiden Schizophrenie gelitten haben, auf die eine rechtsradikale Ideologie aufgesetzt gewesen sei.

„Ein in erheblichem Umfang übereinstimmendes Weltbild von Vater und Sohn mit extremistischen und verschwörungstheoretischen Tendenzen vermag weder für sich alleine noch mit der vorgenannten zu Tage getretenen Einflussnahme eine Teilnahme oder Mitwisserschaft zu begründen“, so die Bundesanwaltschaft.

Gegen die Entscheidung der Behörde könnten sich Angehörige in einem Klageerzwingungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Frankfurt wehren. Eine Frist dafür läuft vier Wochen lang, ob dieser Schritt gegangen wird, werde noch mit Angehörigen und mehreren Anwälten überlegt, heißt es am Donnerstag von der Initiative, die seit der Tat auf eine lückenlose Aufklärung und Konsequenzen eintritt.

Untersuchungsausschuss befasst sich weiter mit Fragen

Im Fokus bleibt für die Hinterbliebenen nun vor allem der Untersuchungsausschuss zu dem Anschlag vor dem Hessischen Landtag, der sich vor allem mit der Frage befasst, ob es vor, während oder nach der Tat zu einem Behördenversagen gekommen ist. In der Verantwortung sieht die Initiative in erster Linie die hessische Landesregierung. Als ein zentraler Punkt wird es bei der nächsten öffentlichen Sitzung des Gremiums an diesem Freitag um die Überlastung des Hanauer Polizei-Notrufs in der Tatnacht gehen.

Als Zeuge wird unter anderem der Vater von Vili Viorel Păun gehört, der dem Täter nach den ersten Schüssen in der Hanauer Innenstadt gefolgt war, um ihn zu stoppen, und von diesem in seinem Wagen erschossen worden war. Zuvor hatte er mehrfach vergeblich den Hanauer Polizei-Notruf gewählt - dessen Kapazitätsengpässe schon Jahre vor dem Anschlag von Polizisten moniert worden sein sollen. Die Hanauer Staatsanwaltschaft hatte ein Ermittlungsverfahren gegen Polizisten abgelehnt, weil sie keinen strafprozessualen Anfangsverdacht sah. Auch zu mehreren weiteren Anzeigen hatten die Hanauer Staatsanwälte Ermittlungsverfahren nach eingehender Prüfung abgelehnt beziehungsweise eingestellt.

© dpa-infocom, dpa:211216-99-404835/6

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