Bad Neuenahr-Ahrweiler (dpa)
Ahrtal kämpft noch lange mit tödlicher Flut
Fast ein halbes Jahr nach dem Hochwasser im Ahrtal müssen immer noch viele Flutopfer in Ausweichquartieren ausharren. Der Wiederaufbau zieht sich hin.
Zerstörte Häuser und geräumte Grundstücke: Klaus Kniel stapft durch ein Neubaugebiet im Ahr-Flutgebiet. „Hier ist ein ganzes Haus weggeschwommen“, sagt der Ortsvorsteher von Heppingen, einem Ortsbezirk von Bad Neuenahr-Ahrweiler, neben Baustellen-Klos und Baggern.
„Und hier musste eins abgerissen werden.“ Die Lebensträume junger Familien, sie sind in nur einer Nacht zerstört worden. Etliche Meter hat sich hier am 14. und 15. Juli die braune Sturzflut der Ahr nach extremem Starkregen aufgetürmt. 134 Menschen sind im Flusstal getötet worden - und Zehntausende betroffen. Viele blicken in der doppelten Katastrophe von Hochwasser und Corona nach häufiger Todesangst im Sommer bange dem neuen Jahr entgegen. Wie weit ist der Wiederaufbau?
Marc Ulrich, Initiator eines Shuttledienstes für Helfer im Ahrtal, sagt angesichts der Zerstörungen in dem Rotweinanbaugebiet: „Der größte Teil der Entsorgung von Schutt und des Rückbaus von Häusern ist gelaufen.“ Flutopfer und Helfer haben Schlamm, Putz und Bodenbeläge entfernt: Tausende durchnässte Gebäude sollen trocknen können. Ortsvorsteher Kniel erklärt indessen, manche Fertighäuser beispielsweise seien mit ihren vollgesogenen Wänden nicht mehr zu retten: „Den Schimmel kriegt man da nie mehr raus.“
Jetzt Fachfirmen am Zug
Bei den vielen anderen in den Rohbauzustand zurückversetzten Gebäuden sind nach der Solidarität Tausender freiwilliger Helfer inzwischen oft Fachfirmen am Zuge. Der Erste Beigeordnete des Landkreises Ahrweiler, Horst Gies (CDU), betont: „Der Wiederaufbau in unserem Kreis nimmt Fahrt auf.“ Allerdings gehe es um „eine Mammutaufgabe, die viel Zeit in Anspruch nehmen wird“. Ausgebuchte Fachfirmen und zunehmender Fachkräftemangel, die Coronavirus-Variante Omikron und winterliche Temperaturen, all dies macht die Lage nicht leichter.
Ulrich bestätigt das. Immer noch würden auch private Helfer gebraucht. Doch ihre Zahl sei wegen Corona gesunken und die Bewohner des Ahrtals brauchten auch noch nach Weihnachten erst einmal eine Ruhezeit. Daher pausiere der Helfershuttle bis zum 1. März. Dessen Projektbüro könne aber auch zuvor bei Bedarf weitere freiwillige Helfer vermitteln. Insgesamt hat der Shuttle laut Ulrich schon rund 100 000 Helfer aus dem In- und Ausland ins Tal befördert.
Tausende Flutopfer pferchen sich noch bei Verwandten, Freunden und in Ferienwohnungen zusammen. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) erklärt: „In vielen Kommunen werden Tiny Houses (Minihäuser) bereitgestellt. Als allerletzte Möglichkeit werden ausreichend Notunterkünfte bereitgehalten.“ Auch Kinder mancher zerstörter Schulen müssen sich, wenn nicht gerade wie jetzt Ferien sind, in Container zwängen.
Lange Lieferfristen oft Problem
Dreyer betont: „Aktuell hat natürlich die Winterversorgung weiterhin oberste Priorität.“ Eine neue Erdgashochdruckleitung beispielsweise sei in einer Rekordzeit von nur 100 Tagen durch das untere Ahrtal gebaut worden. In den Dörfern flussaufwärts wird auch viel auf provisorische Heizlösungen gesetzt. Ein Problem sind teils mehrmonatige Lieferfristen für neue Heizungen wegen des internationalen Chipmangels. Der Obermeister der Innung Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik im Kreis Ahrweiler, Frank Wershofen, hat nach eigenen Worten auch schon „Kunden, die frieren“, gehabt.
Mittagessen im Freien für Flutopfer und Helfer im Weindorf Dernau: Der Winzer Dieter Großgarten sagt: „Ich bin mit zwei Häusern betroffen, mit dem von meinem Schwiegervater und mit meinem.“ Viele „Flutis“ wie er seien lange von der Solidarität der privaten Helfer getragen worden. Doch es brauche auch Geld. Rund 15 Milliarden Euro sollen von einem Notfonds von Bund und Ländern nach Rheinland-Pfalz fließen. Flutopfer sollen meist maximal 80 Prozent ihrer Kosten für den Wiederaufbau von Häusern bekommen. Aber das gehe mit den vorgeschriebenen Gutachten nur sehr langsam, kritisiert Großgarten.
Neue „Wintertreffpunkte“ erntstanden
Etliche Kommunen bemühen sich um Begegnungsorte gerade in der dunklen Jahreszeit - die Flut hat auch viele Gaststätten zerstört. Bad Neuenahr-Ahrweiler etwa bietet gegenwärtig acht „Wintertreffpunkte“ mit Getränken, Essen und Kultur in Gebäuden, beheizten Zelten und Containern an. Auch viele Geschäfte sind in der Kurstadt geflutet worden. Daher sollen zwei provisorisch errichtete Pop-up-Einkaufszentren den Handel ankurbeln und Begegnungen ermöglichen, voraussichtlich bis lange ins neue Jahr hinein. Im hochwassergeschädigten Kurpark der Kleinstadt freuen sich derzeit wiederum viele kleine und große Schlittschuhläufer über eine Eisbahn.
Das Ahrtal soll anders wieder aufgebaut werden. Dreyer betont: „Viele Projekte und Maßnahmen können Modellcharakter haben.“ Sie denke etwa an hocheffiziente Kläranlagen, klimaneutrale Wärmeversorgungen und hochwasserdurchlässigere Brücken. Wichtig sei auch ein „überörtliches Hochwasservorsorgekonzept für das gesamte Ahreinzugsgebiet“. In sehr hochwassergefährdeten Zonen sollen laut Landesregierung keine neuen Häuser mehr gebaut werden. Ganz ohne Konflikte dürften solche Entscheidungen nicht bleiben. Derweil erklärt auch der CDU-Politiker Gies: „Da wir nach heutigen Standards neu und hochwassersicher aufbauen werden, wird das Ahrtal sich unweigerlich verändern.“ Es solle aber wieder das Paradies werden, „das es war“.
© dpa-infocom, dpa:211227-99-516287/3