Washington/Moskau/Brüssel (dpa)

Ukraine-Konflikt: Kriegsgefahr oder Hysterie?

Christiane Jacke, Ulf Mauder, Ansgar Haase, Michael Fischer und Andreas Stein, dpa
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Von Christiane Jacke, Ulf Mauder, Ansgar Haase, Michael Fischer und Andreas Stein, dpa
| 28.01.2022 11:24 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
Ein ukrainischer Soldat geht an der Frontlinie durch einen Graben. Foto: Vadim Ghirda/AP/dpa
Ein ukrainischer Soldat geht an der Frontlinie durch einen Graben. Foto: Vadim Ghirda/AP/dpa
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Die US-Regierung gibt in der Ukraine-Krise einen dramatischen Ton vor. Manche in Europa halten das für übertrieben. In Russland und der Ukraine ist die Sicht auf die Dinge ohnehin anders.

Macht er es oder macht er nicht? Die Welt rätselt, ob der russische Präsident Wladimir Putin tatsächlich in die Ukraine einmarschiert.

Die Einschätzungen dazu gehen in den USA, Europa - und der Ukraine selbst - erstaunlich weit auseinander, trotz aller Bekenntnisse der Partner zu maximaler Geschlossenheit. Moskau spielt das in die Hände.

Düstere Szenarien aus den USA

Die US-Regierung beschwört seit Wochen mit zunehmender Dramatik düstere Szenarien herauf: Eine russische Invasion der Ukraine könne „jederzeit“ beginnen, ja, „unmittelbar bevorstehen“. Alles deute darauf hin, dass Putin militärische Gewalt anwenden werde. Auch wenn der Fokus auf einer diplomatischen Lösung liege, müssten sich die USA und ihre Verbündeten „auf das Schlimmste“ vorbereiten.

US-Präsident Joe Biden selbst wählte zuletzt dramatische Worte: Ein russischer Einmarsch in die Ukraine könnte die „größte Invasion seit dem Zweiten Weltkrieg“ werden, sagte Biden vor wenigen Tagen in Washington. Ein solcher Schritt würde „die Welt verändern“. Und es könne sein, dass er einen Teil der 8500 US-Soldaten, die in erhöhte Bereitschaft versetzt wurden, „in naher Zukunft“ nach Europa verlege, um vorbereitet zu sein. Die gewichtige Ansage machte der Präsident nicht etwa im Weißen Haus, sondern beim Besuch in einem kleinen Geschäft im Südosten der US-Hauptstadt - umgeben von Kinderklamotten, Jutebeuteln und Geschenkartikeln. Danach ging er Eis essen.

Biden hat eigentlich kein Interesse daran, die USA in den nächsten bewaffneten Konflikt zu verwickeln. Gerade erst hat er trotz großer Kritik alle US-Truppen aus Afghanistan heimgeholt. Doch eben das Debakel beim Afghanistan-Abzug könnte mit hineinspielen in sein Bemühen, im Ukraine-Konflikt nun Stärke zu demonstrieren.

Zweifel in Teilen Europas

Sehr unterschiedlich wird die aktuelle Lage unter den europäischen Alliierten und in der EU gesehen. Auf der einen Seite gibt es Staaten wie Litauen, die sich fest davon überzeugt geben, dass ein großer Krieg sehr wahrscheinlich ist, und die eine deutliche Aufrüstung der Nato an der Ostflanke fordern - zur Abschreckung, aber auch für den Fall eines militärischen Konflikts in Osteuropa. Auf der anderen Seite stehen Länder wie Deutschland, die hinter verschlossenen Türen zur Zurückhaltung mahnen und befürchten, dass das aktuelle Säbelrasseln das Kriegsrisiko noch einmal deutlich erhöhen könnte.

Zweifel an den US-Warnungen lässt auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erkennen. Er forderte jüngst auf, einen „Nervenzusammenbruch“ zu vermeiden - und alle Reaktionen, „die ein Alarmgefühl auslösen können“. Borrell machte deutlich, dass die EU derzeit, anders als die USA, keinen Grund dafür sieht, Botschaftspersonal und Familien von Diplomaten zur Ausreise aus der Ukraine aufzufordern.

In Deutschland wird zwar offen über die Kriegsgefahr geredet. Auch in der Bevölkerung ist die Kriegsangst einer aktuellen Umfrage zufolge angekommen. Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bemühen sich aber um gemäßigte Töne und sprechen eher vom Ernst der Lage - um eben diese nicht weiter anzuheizen. Baerbock empfahl zuletzt sogar eine verbale Abrüstung: „Wir erleben aktuell eine Zeit (...), in der markige Sprüche gut klingen, aber Steilvorlagen für heftigste Konsequenzen sein könnten.“

Keine neue Kriegsangst in der Ukraine

Und in der Ukraine? Nach knapp acht Jahren Konflikt im Osten des Landes und regelmäßig wiederkehrenden Warnungen vor einer russischen Invasion ist dort von neuer Kriegsangst nichts zu spüren. Die Menschen gehen ihrem Alltag nach. In den Großstädten sind die Restaurants gut gefüllt. Hamsterkäufe sind nicht zu beobachten.

Kiew scheint eher besorgt über mögliche wirtschaftliche Folgen einer international geschürten Furcht vor Krieg. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verbreitete zuletzt gleich in mehreren Videoansprachen die einfache Botschaft: „Keine Panik“.

Außenminister Dmytro Kuleba sagte, die Zahl russischer Soldaten an der Grenze sei zwar groß und stelle eine Bedrohung dar. „Diese Zahl ist jedoch nicht ausreichend für eine Großoffensive entlang der gesamten ukrainischen Grenze.“

Mit Blick auf die US-Wortwahl schob er nach: „Wir können jeden Tag 100 Mal sagen, dass eine Invasion unmittelbar bevorsteht, aber das ändert nichts an der Situation vor Ort.“ Putin versuche eher, die Ukraine auf anderem Weg zu destabilisieren, mit Cyberangriffen oder Druck auf das Finanzsystem.

Dementis aus Russland

Moskau betont täglich, es plane keinen Überfall auf die Ukraine. Der Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze diene lediglich als Drohkulisse, um über die von Russland geforderten Sicherheitsgarantien ins Gespräch zu kommen, heißt es aus dem Kreml. Das russische Militär liefert täglich Actionbilder von Manövern, die bedrohliche Signale aussenden.

Seit Wochen beklagt Moskau „russlandfeindliche Hysterie“ bei der Nato und in den USA und sieht vielmehr dort Kriegstreiber am Werk. Die russische Regierung warnt Kiew immer wieder, sich vom Westen nicht zu einer militärischen Operation gegen die moskautreuen Separatisten im Donbass - in der Ostukraine an der Grenze zu Russland - verleiten zu lassen. Im Fall einer ukrainischen Offensive im Donbass sieht Russlands Militärdoktrin vor, dass Moskau Streitkräfte zum Schutz seiner Bürger dort einsetzen kann. Und der Kreml machte zuletzt immer wieder deutlich, dass ein solcher Eingriff drohen könnte.

Invasion hätte verheerende Folgen

Einen großflächigen Krieg gegen die Ukraine aber sehen viele Russen als westliche Hirngespinste. Eine Invasion der Ukraine hätte auch verheerende Folgen für den Kreml - politisch, wirtschaftlich und etwa mit Blick auf die nach Deutschland verlegte Ostsee-Pipeline Nord Stream 2. Als vorteilhaft für den Kreml gilt aber die aktuelle Lage mit kontrollierbaren Spannungen und Dialog.

Nach der international verurteilten Annexion der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim 2014 und einer zunehmenden Entfremdung versucht Moskau seit Jahren, wieder ins Gespräch zu kommen mit dem Westen. Nun bestimmt Putin die internationale Agenda und bekommt hochrangige Treffen. Auch die Tatsache, dass Biden und andere ihn als den starken Mann darstellen, der allein über die weitere Entwicklung entscheide, dürfte dem Kremlchef gefallen.

„Ich glaube, dass selbst seine eigenen Leute nicht genau wissen, was er vorhat“, sagte Biden über Putin - bei jenem denkwürdigen Auftritt zwischen Baby-Pullovern und Grußkarten. Auf die Nachfrage, ob die Gefahr einer Invasion zugenommen oder abgenommen habe oder gleichbleibend sei, erklärte der US-Präsident: „Ich werde vollkommen ehrlich mit Ihnen sein: Es ist ein bisschen wie im Kaffeesatz lesen.“

© dpa-infocom, dpa:220128-99-885023/5

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