Berlin (dpa)

Schnittchendämmerung - Kommt der Untergang des Abendbrots?

Gregor Tholl, dpa
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Von Gregor Tholl, dpa
| 10.03.2022 08:53 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
Belegtes Schwarzbrot mit Gürkchen. Foto: Sina Schuldt/dpa
Belegtes Schwarzbrot mit Gürkchen. Foto: Sina Schuldt/dpa
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Graubrot, Gouda, Gürkchen - erledigt vor der „Tagesschau“: das Klischee vom deutschen Dinner. Doch der Kulturwandel ist deutlich erkennbar. Stirbt das klassische Abendbrot nach hundert Jahren aus?

„Abendbrot“ wird in Deutschland oft das Abendessen genannt. Zu sich genommen wird es zwischen 17 und 19 Uhr. So erklären es auch Deutschlandreiseführer oder Bücher über Deutsch als Fremdsprache.

Doch in der modernen Arbeitswelt und der globalisierten Zeit des Low-Carb-Dinners, also der Empfehlung vieler Ernährungsexperten, abends kohlenhydratarm zu essen: Da stirbt die Mahlzeit der Scheiben Brot mit Aufschnitt möglicherweise aus. Droht der Untergang des Abendbrots? Herrscht jetzt Schnittchendämmerung?

Die Wurstindustrie gibt sich jedenfalls leicht alarmiert. Allerdings löst nicht etwa - wie man denken könnte - das wachsende Angebot veganer und vegetarischer Fleischersatzprodukte Sorgen aus. „Wir können aus einer Masse an Rohstoffen eine Wurstware machen. Ob da nun Fleisch oder Erbsen drin sind, ist zweitrangig“, sagte Sarah Dhem, die Präsidentin des BVWS (Bundesverband Deutscher Wurst- & Schinkenproduzenten) kürzlich der „Neuen Osnabrücker Zeitung“.

„Die Zeit der Völlerei ist vorbei“

Folgenreicher sei der Wandel der Essgewohnheiten insgesamt. Statt Pausen- oder Abendbrot mit Wurstbelag kämen zunehmend andere Gerichte auf die Teller. Die Wurstbranche sei dabei, sich neu aufzustellen, sagte Dhem mit Blick auf sinkenden Fleischkonsum. „Die Zeit der Völlerei ist vorbei.“

In Ländern wie Spanien und Griechenland, in denen Deutsche gerne urlauben, wird abends meistens warm gegessen - und auch später als hierzulande. Brot mit Wurst und Käse gilt dort höchstens als Vorspeise und nicht als vollwertige Mahlzeit, die man ganz teutonisch rechtzeitig zu den Abendnachrichten im Fernsehen beendet hat.

Der deutsche Brauch, abends kalt zu essen, stammt Kulturwissenschaftlern zufolge aus den 1920er Jahren. Damals dominierte mehr und mehr die Industrie den Alltag - im Gegensatz zu den landwirtschaftlicheren Strukturen in Staaten wie Italien und Frankreich. In Fabriken gab es immer öfter Kantinen. Wer dort mittags speiste, wollte abends oft kein warmes Essen mehr. Da die Arbeit dank Technisierung auch körperlich weniger anstrengend wurde, liebten es viele am Abend leichter: Brot, Wurst, Käse, bisschen Rohkost, fertig.

Das Abendbrot setzte sich dann nach dem Krieg noch stärker durch. Damals stieg auch die Zahl erwerbstätiger Frauen. Das schnell gemachte Abendbrot wurde Tradition in vielen Familien. Langweilig waren die Schnittchen am Abend dabei übrigens nie. Deutschland ist bekanntlich stolz auf Hunderte Brotsorten und Wurstwaren, gern dekoriert mit Gewürzgürkchen, Radieschen oder hart gekochtem Ei.

Ein Leben ohne abendliche Leberwurststulle

Dennoch führen Millionen Deutsche heute ein Leben ohne abendliche Leberwurststulle: Der Trend weg vom kalten Snack ist von Sylt im Norden bis ins Allgäu im Süden deutlich erkennbar.

Die Allensbach-Studie „So is(s)t Deutschland“ für den Nahrungsmittelkonzern Nestlé förderte zutage, dass das Abendessen unter der Woche bei vielen inzwischen die wichtigste Mahlzeit geworden ist. 2019 nannten 38 Prozent das Abendessen die Hauptmahlzeit des Tages, zehn Jahre zuvor war es ein Drittel der Bevölkerung.

Die Corona-Pandemie, die Millionen monatelang zu Hause arbeiten ließ, hat vielen Familien ermöglicht, auch mitten am Tag zusammenzukommen. Doch ein echtes Revival des Mittagessens sehen Experten trotz Homeoffice nicht. Nestlé-Sprecher Alexander Antonoff sagt, alles deute darauf hin, dass der Megatrend zur warmen Hauptmahlzeit am Abend weitergehe. Das soziale Lagerfeuer abends passe mehr zum immer entstrukturierteren Alltag von Millionen Haushalten in Mitteleuropa.

Die Künstlerin und Gießener Hochschullehrerin Ingke Günther glaubt jedoch bei alledem nicht, dass das früher populäre Abendbrot in Deutschland vollends verschwindet. Es habe aber seine jahrzehntelang vorherrschende Rolle verloren: „Das liegt daran, dass die Arbeits- und Lebenswirklichkeiten diverser geworden sind. Aber bei Älteren und in Familien mit Kindern ist das Abendbrot oft noch die Regel.“ Und in einigen städtischen Milieus, wo Bio-Bäckereien eine neue Brotkultur entwickelt haben, gebe es eine bewusste Rückbesinnung aufs Abendbrot.

Günther bezeichnet sich unter anderem als „Abendbrotforscherin“. Sie meint: „Das Konzept, gemeinsam am Tisch zu sitzen und sich das Brot selbst zu belegen, ist einfach bestechend. Die Bilder von einem gemeinsamen Abendbrot sind in den Köpfen vieler Leute sehr lebendig - auch wenn es womöglich nur am Wochenende zelebriert wird.“

© dpa-infocom, dpa:220310-99-458291/2

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