Wien (dpa)
Blicke hinter die Fassade - Michael Haneke wird 80
Präzision als „moralischer Imperativ“ der Kunst. Michael Haneke schafft oft bedrückende Film-Werke nach genau diesem Anspruch. Nichts überlässt der Oscar-Preisträger dem Zufall.
Diverse Zeichnungen und Pfeile für die Bewegungen von Kamera und Schauspielern ergänzen die ohnehin schon genauen schriftlichen Anweisungen im Drehbuch.
„Nach gut 20 Sekunden hören wir das Geräusch der Rohrstockschläge und Martins Schreie“, schreibt Michael Haneke in seinem Drehbuch zu „Das Weiße Band - Eine deutsche Kindergeschichte“ von 2009. In diesem wie in anderen Werken überließ der für seine verstörend realistischen Filme bekannte Regisseur nichts dem Zufall, vertraute nicht auf die mögliche Magie der Improvisation. „Er ist beinahe altmodisch in seiner Genauigkeit“, sagt der Chef des Filmmuseums in Wien, Michael Loebenstein.
Goldene Palme, César und Oscar
Am 23. März feiert der in München geborene Österreicher seinen 80. Geburtstag. Auf die Frage nach aktuellen Projekten antwortet Haneke: „Nichts, worüber sich schon zu reden lohnte.“ Neue Vorzeige-Projekte braucht der hoch angesehene Filmemacher nicht mehr, um sein Lebenswerk abzurunden. Er hat Dutzende Preise für sein Film-Werk eingesammelt: Darunter die Goldene Palme von Cannes, den César und als Krönung den Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film für „Liebe“ - eine alte Frau wird nach einem Schlaganfall von ihrem Mann aus Liebe getötet.
Der internationale Durchbruch gelang Haneke 2001 mit „Die Klavierspielerin“. Isabelle Huppert, eine zentrale Figur seiner Filme, spielt nach der literarischen Vorlage von Elfriede Jelinek höchst eindringlich eine neurotische Musikpädagogin, die sich und andere quält.
„Haneke ist stilbildend für das europäische Arthouse-Kino der letzten Jahrzehnte geworden“, sagt Loebenstein. Dem Filmmuseum hat Haneke seine Arbeitsmaterialien wie Drehbücher und Notizen als Vorlass ausgehändigt. So hat sich die Institution zu einer zentralen Anlaufstelle für alle entwickelt, die über den Filmemacher forschen wollen. Über Haneke seien mehr als ein Dutzend Monografien geschrieben worden. „Das ist äußerst ungewöhnlich“, sagt Loebenstein.
Karriere mit Umwegen
Der Tschechow-Fan Haneke wollte eigentlich Schauspieler werden, scheiterte aber bei der Aufnahmeprüfung am Max-Reinhardt-Seminar in Wien. Auch den Wunsch, Konzertpianist zu werden, ließ er fallen. Er studierte Philosophie, Psychologie und Theaterwissenschaften - ohne Abschluss. Er wurde Fernsehspiel-Dramaturg beim damaligen Südwestfunk in Baden-Baden und Theaterregisseur. Unter anderem an den Bühnen in Stuttgart, Düsseldorf, Hamburg, München und Berlin inszenierte er in den 1970er Jahren viele Klassiker.
1989 startete Haneke mit „Der siebente Kontinent“ seine Kino-Karriere. Der Schritt für Schritt inszenierte Suizid einer Familie zeige „die Vergletscherung der Gefühle in der hoch industrialisierten Welt“, so Haneke damals.
Seine Handschrift ist markant: Seine Filme verzichten auf jede Musik, die nicht aus der Szene selbst stammt. Die Einstellungen sind oft bedrückend lang. Die Gewalt in seinen Werken sei kein „gruseliger Schauer“, sondern echte Zerstörung, sagt Loebenstein. „Funny Games“ (1997) über die Ermordung einer Familie durch zwei Jugendliche ist in seiner unentrinnbaren Konsequenz kaum erträglich.
Hanekes Figuren „blicken mit leeren Augen auf die Ausweglosigkeit ihrer Situation“, schreibt die Zeitung „Der Standard“. Die bürgerliche Existenz mit ihren Ritualen ist bei ihm ein hohles Etwas. Das sonst gern verklärte Essen im Kreis der Familie entpuppt sich unter seiner Regie als quälende Zumutung.
Der Regisseur ist ein Gegner des Zerstreuungskinos mit seinen Effekten. Die meisten Filmemacher fühlten sich dem Geschäft gegenüber verantwortlich. „Das ist das, was ich als obszön bezeichnen würde“, bekennt Haneke in einer Dokumentation über sein Werk. Die französische Schauspiel-Legende Jean-Louis Trintignant - er spielt in „Liebe“ und im letzten Haneke-Film „Happy End“ (2017) eine Hauptrolle - sagt über dessen schmuck- und schnörkelloses Werk: „Er lehnt alles ab, was Eindruck schinden könnte.“
„Haneke ist ein Ohrenmensch“
Bei seiner Arbeit vertraut Haneke, der seit 20 Jahren an der Wiener Filmakademie lehrt, nicht zuletzt auf das Hören. „Haneke ist ein Ohrenmensch, der beim Dreh die Fehler hört“, sagt Loebenstein. Am Set gilt der Regisseur, der Einstellungen vielfach wiederholen lässt und mit nur einer Kamera dreht, nicht gerade als Diplomat. Er sei „ein bisschen ein Kontrollfreak“, räumt Haneke in der Dokumentation ein.
Der Regisseur hält daran fest, dass seine Streifen keine Botschaften hätten, sondern verstören sollen. „Mich bringen immer die Sachen weiter, die mich verunsichern.“ Wenn er etwas sehe oder lese, was er schon zu wissen glaube, sei das verlorene Zeit, sagte er vor wenigen Jahren. Und er lässt keinen Zweifel: „Intensität entsteht durch Genauigkeit“. Präzision sei ein „moralischer Imperativ der Kunst“.
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