London (dpa)
Endspiel für Boris Becker vor Gericht
Crown Court statt Centre Court: Einst hechtete sich Boris Becker in London in die Herzen der Tennisfans. Nun droht ihm in der britischen Hauptstadt im schlimmsten Fall sogar eine Haftstrafe. Wie konnte das passieren?
Boris Beckers Schicksalsorte trennen nur rund zwölf Kilometer Luftlinie.
Hier der Centre Court von Wimbledon, genannt Beckers „Wohnzimmer“, wo er drei Mal das wohl wichtigste Tennisturnier der Welt gewann. Dort der fensterlose Saal Nummer 3 im Gericht Southwark Crown Court, in dem seit Tagen über das Schicksal des mittlerweile 54-Jährigen verhandelt wird.
In London spiegeln sich Glanz und Tristesse des ehemaligen Ausnahmesportlers wider. Nun beginnt der Entscheidungssatz: Staatsanwältin Rebecca Chalkley sieht in ihren Schlussworten am Dienstag Beckers Schuld als erwiesen an. Verteidiger Jonathan Laidlaw begründet ausführlich, warum sein Mandant keinesfalls gegen Insolvenzvorschriften verstoßen habe.
Die Schuldfrage müssen dann die Geschworenen klären, daraufhin setzt Richterin Deborah Taylor das Strafmaß fest. Wann dies geschehen wird, bleibt zunächst offen.
Becker im gläsernen Kasten
Hochkonzentriert und sichtbar angespannt zeigt sich Becker seit Prozessbeginn am 21. März. Jeden Tag begleitet ihn seine Lebensgefährtin Lilian De Carvalho Monteiro, händchenhaltend taucht das Paar morgens auf. Am Dienstag ist zudem erstmals sein Sohn Noah dabei. Während seine Partnerin und sein Sohn dem Verfahren T20200384 am Rande des Saals lauschen, muss Becker als Angeklagter in einem gläsernen Kasten Platz nehmen.
Spätestens hier wird klar: Dies ist kein Spiel. Becker könnten theoretisch bis zu sieben Jahre Haft drohen. Die Anklage wirft ihm vor, dem Insolvenzverwalter Geld, Wertgegenstände wie Trophäen und Immobilien verschwiegen zu haben. Das weist der Ex-Tennisstar zurück.
Crown Court statt Centre Court: Trotz der kurzen Distanz war es lange undenkbar, dass Beckers Leben ihn einmal hierher führen würde. Über 15 Jahre hechtete der Blondschopf über die Tennisplätze, sein Spiel riss Millionen mit - und er war erfolgreich.
Dreimal gewann er Wimbledon, noch immer ist er der jüngste Sieger in der Geschichte des Turniers. Zwei Mal siegte er bei den Australian Open, ein Mal bei den US Open. Gemeinsam mit Michael Stich holte er 1992 im Doppel Gold bei den Olympischen Spielen, das deutsche Team führte er zum Sieg im Davis Cup. Zwölf Wochen lang war Becker Erster der Weltrangliste. Gut 25 Millionen US-Dollar sammelte er als Preisgeld ein - dazu, so schätzt er selbst, die gleiche Summe mit Werbeeinnahmen.
Nun ist alles weg. Mehr noch: Becker hat Schulden. Beim Versuch, Geld zurückzuzahlen, nahm er Kredite auf, teils zu enormen Zinsen. Das Verfahren in London zeigt auch, wie schwierig das Leben für umjubelte Sportler jenseits der Öffentlichkeit ist. Als Becker sensationell 1985 zum ersten Mal in Wimbledon siegte, wurde der 17-jährige Leimener über Nacht zum Wunderkind - und reich. Es folgte ein kometenhafter Aufstieg. Dank Becker - und dem weiblichen Pendant Steffi Graf - stand Tennis plötzlich in der Gunst der Deutschen weit oben.
Gleichzeitig stiegen die Erwartungen und das Interesse, auch und besonders an seinem Privatleben, wo Becker zwar ähnlich unbekümmert aufzutreten schien wie auf dem Tennisplatz, aber deutlich unglücklicher agierte. Dass er in seiner Wahlheimat Großbritannien als TV-Kommentator mit Sachverstand und gutem Englisch nach wie vor geschätzt wird, hilft ihm in Deutschland wenig. Dort findet er fast nur noch in Klatsch- und Tratschnachrichten statt, seine Beziehungen und Affären sorgen seit Jahren auch für Spott. Als Geschäftsmann hatte er ebenfalls offenbar kein glückliches Händchen.
Scham der Privatinsolvenz
Schonungslos legt das Verfahren nicht nur Beckers Privatleben offen. Immer wieder erzählt der einstige Superstar von der Scham der Privatinsolvenz, die er 2017 anmelden musste. „Peinlich“ sei es gewesen, dass sein Fall weltweit in den Nachrichten kam. Die „Marke Becker“ sei beschädigt, Werbepartner winken ab, Immobilien muss er unter Wert verkaufen.
Aber dass er seinen Insolvenzverwalter getäuscht habe, wie es die Anklage im Fall „The Queen v Boris Franz Becker“ behauptet? Nein, das stimme nicht, betont der 54-Jährige im Gericht mit Nachdruck. Er habe einfach keinen Überblick über seine Finanzen gehabt. Er sei nicht gewohnt, Verträge auszuhandeln und abzuschließen. Er lese seine Post nicht. Er habe nicht gewusst, dass Konten auf seinen Namen angelegt wurden, dass ihm Immobilien wie sein Elternhaus in Leimen überschrieben wurden. Erklärung: „Ich war damit beschäftigt, um die Welt zu reisen und Tennis zu spielen.“
Auch nach seinem Karriereende 1999 änderte sich daran wenig. Berater seien für sein Geld verantwortlich gewesen. Nur dass sein Einkommen deutlich sank. Geld gab Becker dennoch aus. Vor Gericht beklagt er die „teure Scheidung“ von Ex-Frau Barbara, für Tochter Anna Ermakowa zahlt er Millionen an Unterhalt. Dennoch leistet er sich ein Luxusanwesen in Wimbledon und einen entsprechenden Lebensstil. Sein Anwalt Laidlaw sagt es so: „Dieser Mann ist hoffnungslos mit Geld.“
In London kämpft Becker nun um seine Freiheit - und das, was von seinem Ruf noch übrig ist. Staatsanwältin Chalkley hat deutlich gemacht, dass sie der Verteidigungslinie, Becker sei einfach von Grund auf naiv gewesen, keinen Glauben schenkt. „Alle haben Schuld, nur Sie nicht“, spottet sie. „Lassen Sie sich nicht von der Prominenz des Angeklagten ablenken“, hatte Richterin Taylor den Geschworenen zu Prozessbeginn auf den Weg gegeben. Was das für ihn bedeutet, wird Boris Becker bald wissen.
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