Best of 2022 Das große Glück am Leuchtturm
Erhard und Henny Jüsche haben in einem Traumhaus gelebt: dem Leuchtturmwärterhaus am Pilsumer Deich. Bei Dreharbeiten hörte Johann Ahrends eine beeindruckende Lebensgeschichte.
In diesem Jahr hat sich Filmemacher Johann Ahrends in der Serie „Küste und Kamera“ für die Ostfriesen-Zeitung an seine vielen Dreharbeiten in Ostfriesland erinnert. Für unsere Zeitung hat er die Hauptdarsteller Jahre später noch einmal besucht. Herausgekommen sind lustige, überraschende, unterhaltsame, spannende und nicht selten auch traurige Geschichten. Empfehlenswert sind sie alle. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die beiden Artikel über Erhard Jüsche und seine Frau Henny. Nicht nur, weil es mir wie Ahrends geht, und ich (Ute Kabernagel) dieses Haus am Pilsumer Leuchtturm so faszinierend finde. Es war auch eine der Geschichten, die mich besonders berührt haben. Für alle, die die Serie vermissen, gibt es eine gute Nachricht: Im Februar startet die zweite Staffel.
Pilsum - Frühling 2009: Ich stehe mit meinem Kamerateam zwischen blökenden Schafen am Deich in Pilsum – im Schatten des berühmten gelb-roten Leuchtturms. Wir drehen einen Film über den Deichschäfer Klaus Wuttge. Ich frage ihn, wer denn eigentlich in dem Haus am Leuchtturm wohnt. Er antwortet mit einem Achselzucken. Schon als ich noch bei der Ostfriesen-Zeitung in der Ausbildung war, fand ich dieses Haus faszinierend. Damals war es allerdings unbewohnt und verfallen.
Seit fast 30 Jahren dokumentiert Johann Ahrends das Leben der Menschen in Ostfriesland mit seinen Filmen. Zu den meisten Protagonisten hat er nach der Sendung den Kontakt gehalten. Für diese Serie hat Johann Ahrends die Personen jetzt noch einmal besucht. Er blickt mit ihnen zurück auf die Dreharbeiten und plaudert dabei aus dem Nähkästchen eines Filmemachers. Und die Menschen erzählen ihm teilweise sehr persönlich, was aus ihnen geworden ist, wie sich ihr Leben verändert hat und wie sie heute denken – über ihr Leben und den Film von damals. Johann Ahrends stammt aus Wiesmoor, hat in den 80er Jahren bei der Ostfriesen-Zeitung gelernt und ist seit 1993 für das ZDF und den NDR in Hannover tätig.Die Serie
Jetzt dagegen sieht es recht schmuck aus – neues Dach, neue Fenster und ein großes gesichertes Eisentor. Ich gehe hin und schaue aufs Klingelschild: Jüsche steht da. Später schaue ich ins Telefonbuch, rufe an, spreche auf Band, dass ich gerne einen Film über ihn machen würde. Mit einer Antwort rechne ich nicht.
Ein paar Wochen später meldet sich Erhard Jüsche tatsächlich bei mir und bedankt sich für das Interesse. Wir verabreden uns in Pilsum. Ich lerne einen Mann kennen, der versuchte, zu Fuß aus Ostpreußen zu flüchten, mit zehn Jahren noch nicht lesen und schreiben konnte, es in seinem späteren Leben aber so weit brachte, dass er Chef von 16.000 Menschen war. Jetzt ist der Manager in Rente und hat sich mit dem Haus einen Traum verwirklicht.
Herr Jüsche und Fräulein Harms
„In einer Kölner Kneipe hat es mich erwischt“, lacht Jüsche. „Auf einem Bierdeckel sah ich den Pilsumer Leuchtturm und das dazugehörige Haus. ,Da will ich hin‘, sagte ich damals zu meiner Frau.
Diesen Wunsch habe er nie aus den Augen verloren.“ 15 Jahre später kaufte er das Haus. „Es war verfallen, hatte keinen Strom, kein fließendes Wasser.“ Er nahm es trotzdem. Es zog ihn zurück nach Ostfriesland. Denn nach dem Krieg lebte er als Flüchtling im Lager Tidofeld in Norden, machte bei der EWE seine Ausbildung und heiratete eine Ostfriesin. Er nannte sie liebevoll „Fräulein Harms“.
Dann unser erster Drehtag. Es ist Anfang Juli 2010. Ich bin überwältigt von dem Haus: aufwändig restauriert, extrem gemütlich und mit einem unschlagbaren Blick auf den Leuchtturm. Drumherum hat Erhard Jüsche breite Gräben angelegt. Mit einem kleinen Boot pirscht er sich an die heimischen Vögel heran. Die Ornithologie ist seine große Leidenschaft.
Eine Karte voller Punkte
Erhard Jüsche – ein Mensch mit zwei Gesichtern. Zum einen ist er der kontrollierte und ernste Manager, auf der anderen Seite der zugewandte, offene und emotionale Mensch. Unser erstes Interview führen wir in seinem Büro. An der Wand hängt eine Weltkarte mit vielen roten Klebepunkten. Dort überall ist er schon gewesen. In den Regalen viele Bücher über Ostfriesland, Lale Andersen, den Sternenforscher David Fabricius und über Ostpreußen. Ich möchte sein Leben von Anfang an aufrollen und frage ihn als erstes nach seinen Erlebnissen bei der Flucht. Bis heute fällt es ihm schwer, darüber zu reden. Seine Großmutter kam dabei ums Leben. Die Familie musste ins Dorf zurückkehren. Zweieinhalb Jahre lang litten sie Hunger und Not. Die Hälfte der Dorfbevölkerung starb. Es war eine schwere Zeit für Erhard Jüsche. Jetzt kämpft er mit der Rührung, es ist ihm unangenehm. Aber es ist auch echt und sympathisch.
Im weiteren Interview erzählt er mir dann davon, wie er mit seiner Familie in die DDR umgesiedelt wurde und 1949 von dort aus über die Grenze in den Westen flüchtete. Der Suchdienst hatte seinen vermissten Vater auf Norderney gefunden, jetzt wollten sie nach Ostfriesland. Nach diesem intensiven Interview machen wir eine Pause – Ehefrau Henny hat einen Tee gekocht, dazu gibt es Kuchen. Wir spüren, wie glücklich die beiden hier am Deich sind. 1998 sind sie nach Pilsum gekommen. Die beiden erzählen, dass sie oft mit dem Fahrrad auf dem Deich unterwegs sind, die Gegend erkunden. Eigentlich sei er ein sehr rastloser und ungeduldiger Mensch, sagt Erhard Jüsche, Hier am Pilsumer Leuchtturm könne er nun aber zur Ruhe kommen. Seit mehr als 120 Jahren steht dieses Häuschen bereits am Deich – 1916 zog der letzte Leuchtturmwärter aus.
An Strichcodes beteiligt
Wir begleiten das Ehepaar im Auto nach Greetsiel zum Einkaufen. An der Kasse erzählt uns Erhard Jüsche, dass er damals beteiligt war, als die Strichcodes auf den Lebensmitteln eingeführt wurden – das macht ihn auch ein wenig stolz. Wir fahren weiter nach Norden-Tidofeld. Hier verbrachte Erhard Jüsche zehn Jahre seines Lebens – in einem der bundesweit größten Flüchtlingslager. Mehr als 1200 Menschen wohnten in Baracken. Heute steht noch die Gnadenkirche und bald soll in einer Dokumentationsstätte an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert werden. Auch mit Zeitzeugen-Interviews, darum ist Erhard Jüsche an diesem Tag hierher gekommen.
Zwölf Jahre später: Vom Pilsumer Deich zurück nach Köln
Köln - Ein Haus aus roten Ziegeln ist selten am Stadtrand von Köln. Erhard Jüsche wohnt darin – er hat mich bereits erwartet. Wir haben uns seit vielen Jahren nicht mehr gesehen, aber immer den Kontakt gehalten. Äußerlich kaum verändert öffnet mir der 84-Jährige die Tür und bittet mich herein. Vor sieben Jahren ist er zusammen mit seiner Frau nach Köln zurückgekehrt. „Wir haben das Haus am Leuchtturm 2015 verkauft, als uns klar wurde, dass in dieser einsam gelegenen Geografie Probleme auftreten können, wenn man irgendwelche Beschwerden hat“, sagt Jüsche. Trotzdem sei es ihm schwer gefallen, das Haus am Deich zu verlassen. Als erstes führt mich Erhard Jüsche in seinen aufwändig angelegten Garten. Stolz zeigt er mir seine Tomaten, die Azaleen, den Sommerflieder und vor allem seine zahlreichen Rosen. „Ich habe hier einen freien Blick bis zum Horizont“, sagt der Naturfreund. Nebenan suchen Graureiher, Nilgänse und Turmfalken nach Nahrung. Im Haus führt er mich zu einer handgeschriebenen Notiz, die eingerahmt an der Wand hängt – vom Chefarzt einer Kölner Klinik. Dort steht, was für ein freundlicher und positiver Mensch seine Frau war. Vor drei Jahren ist Ehefrau Henny mit 81 Jahren unerwartet verstorben. Erhard Jüsche macht das sehr zu schaffen. „Wir hatten unterschiedliche Naturelle – aber passten zusammen“, erzählt er. Jeder habe dem anderen seine Aufgaben überlassen, ohne alles besser wissen zu müssen. Wir gehen ins Esszimmer. Überall hängen Bilder mit norddeutschen Motiven. Segelboote, Moorlandschaften und natürlich der Pilsumer Leuchtturm. Ich frage ihn, wie er die Dreharbeiten damals vor zwölf Jahren erlebt hat. „Ich war angespannt, weil ich mich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte“, sagt der frühere Wirtschaftsboss. Heute sei der Film aber eine wunderschöne Erinnerung. „Er zeigt die glücklichste Zeit meines Lebens“, sagt der 84-Jährige. Die Sendung habe aber auch für Kritik im Umfeld gesorgt. Jüsche: „Meine emotionalen Reaktionen bei den Interviews passten wohl zu meinem Typ, aber nicht zu meinem Beruf.“ 17 Jahre lang hatte Erhard Jüsche das Haus am Leuchtturm. Jetzt gehört es einem Unternehmer aus Nordrhein-Westfalen. „Ich wäre gerne dort geblieben“, sagt der Hobby-Ornithologe. Er vermisst die Schwärme der Zugvögel im Frühling und im Herbst. Als Ostfriese fühlt er sich übrigens nicht. „Ich mag diese Einordnungen nicht“, sagt Erhard Jüsche. Er sei weder Ostpreuße, noch Ostfriese, noch Kölner – er sehe sich als ein in Europa lebender Mensch. Aber seine zwei Kinder und sechs Enkelkinder in Süddeutschland hätten ein Stück von der Lebensart am Deich mitbekommen: „Die trinken seitdem den echten Ostfriesen-Tee.“ Zurzeit ist Erhard Jüsche dabei, sein Leben neu zu gestalten. Er ist aktiv im Dorfverein, in der Kirche und schreibt für ein Lokalblatt über die Besonderheiten der Natur im Stadtteil. Zu schaffen macht ihm gerade der Ukraine-Krieg. „Die Dinge, die man als Kind erlebt hat, schleppt man immer im Rucksack mit“, sagt er. Um der Bevölkerung den Irrsinn dieses Krieges deutlicher zu machen, würde der 84-Jährige sich wünschen, dass jeden Abend um die gleiche Zeit das Lied „Lilly Marleen“ von Lale Andersen im Radio gespielt wird. Wie damals im Zweiten Weltkrieg.
Pastor Anton Lambertus hat schon die Video-Kamera aufgebaut. Wir dürfen dabei sein. Erhard Jüsche erzählt aus seiner Zeit in Tidofeld. Und zum ersten Mal auch von einem Überfall der Russen auf seine Mutter. Dieses Erlebnis hat ihn sein Leben lang verfolgt, nie konnte er darüber reden – bis heute.
Am Mittag sitzen Erhard und Henny Jüsche dann in der Ludgeri-Kirche und lauschen den Klängen der berühmten Arp-Schnitger-Orgel. Hier haben sie 1962 geheiratet. Draußen auf dem Wochenmarkt erzählt uns Erhard Jüsche noch, dass er 1955 bei der EWE eine zweijährige Ausbildung zum Industriekaufmann machte und damit den Grundstein für seine spätere Karriere legte.
Der Naturbursche
Ein Freund aus dieser Zeit ist ihm bis heute geblieben. Gerd Constapel kommt heute nach unserer Rückkehr zum Tee nach Pilsum zu Besuch. Seine große Leidenschaft gehört der Lyrik und der plattdeutschen Sprache. Erhard Jüsche hat er kennengelernt, als der im Flüchtlingslager Tidofeld lebte. Für ihn seien die Ansichten eines Flüchtlings damals eine Bereicherung gewesen, erzählt Constapel. Das sei bis heute so geblieben.
Zum Schluss unserer Dreharbeiten führt uns Erhard Jüsche noch einmal in sein Refugium aus Gräben, Sträuchern und Wiesen. Er hat sich ein Tarnzelt aufgebaut und studiert die heimische Natur. 20 Brutvogelarten haben sich hier bereits angesiedelt. Das freut ihn. Durch ein Fernstudium in Ornithologie erlangte er das nötige Wissen. Hier ist Erhard Jüsche wieder der Naturbursche, der er schon in Tidofeld war. Auf einem Findling am Eingang seines Grundstücks steht der Spruch: „Du kommst und du gehst, aber wenn du wiederkommst wirst du für immer bleiben.“