Best of 2022 Verzweiflung des Pazifisten Erwin Wenzel über Zeitenwende in der SPD
Wer es fast 60 Jahre mit einer Partei aushielt, als SPD-Kommunalpolitiker durch dick und dünn ging und jetzt sein Parteibuch zurückgibt, für den muss Schlimmes passiert sein. So wie für Erwin Wenzel.
Erwin Wenzel war sehr hartnäckig. Wir wechselten Mails, wir telefonierten, und jedes Mal lehnte er ab, wenn ich ihm sagte, dass er doch seine Geschichte einem Kollegen oder einer Kollegin der zuständigen Lokalredaktion in Emden erzählen möge. Irgendwann machte mich das neugierig, und war ich nicht Journalist geworden, um solche Geschichten zu schreiben? Also fuhr ich hin, ohne zu wissen, wer Erwin Wenzel (früher mal) war, unbefangen und neugierig, wie ein Mensch tickt, für den Frieden über alles geht und Waffenlieferungen an die überfallene Ukraine konsequent ablehnt. Ob er heute nach den andauernden Gräueltaten an der Zivilbevölkerung noch so denkt. Vielleicht sollte ich ihn mal anrufen.
Suurhusen - Jeder Mensch hat seine Geschichte. Eine Geschichte, die das Denken prägt und auch das Handeln, ein Leben lang. Will man also verstehen, warum Erwin Wenzel, der viele Jahre die SPD und damit die Kreispolitik im Landkreis Aurich mitgeprägt hat, „seine“ Partei nach 58 Jahren verlassen hat, dann geht das nicht, ohne sich mit ihm über seine Lebensgeschichte unterhalten zu haben.
Und die beginnt eigentlich schon im Ersten Weltkrieg. Beim Großvater von Erwin Wenzel. Der war nämlich Soldat in diesem fürchterlichen Schlachtengewitter – und wie so viele, kehrte er verwundet an Leib und Seele zurück. Auch Erwins Vater, der sich später als Zimmerer in Norden niederließ, widerfuhr Ähnliches: Er wurde als Soldat eingezogen und kehrte verwundet aus dem Krieg zurück. Das Erlebte schloss er ganz tief in seiner Seele ein, so dass der junge Erwin, 1947 geboren, nie erfuhr, was seinem Vater und auch seinem Großvater widerfahren war. Und trotzdem prägte es ihn. Er wurde Pazifist – und er ist es bis heute.
Das Schulgeld zahlte der Landkreis
Es gibt noch ein zweites Erleben, das den heranwachsenden Erwin, einen klugen Jungen, prägte. 40 Mark betrug damals, in den 1950er Jahren, das Schulgeld für das Gymnasium in Norden. 40 Mark, wie sollte das der hart arbeitende Vater bezahlen können? Wenzel hatte Glück, der Landkreis Norden gewährte ihm ein Stipendium, er durfte auf die höhere Schule. Als damals einziges Arbeiterkind blieb er ein Außenseiter unter den Ärzte-, Apotheker-, Fabrikanten-Söhnen. Und so wurde „Bildung für alle“ eine Lebensaufgabe für Erwin Wenzel, in seinem Beruf als Lehrer und in seiner Berufung als Kommunalpolitiker.
Betrachtet man als Spätgeborener Wenzels Lebenslauf, dann kommt schon Staunen auf. Im Frühjahrssemester 1968 ging das ostfriesische Landei nach Berlin, an die Freie Universität, als Politik-Student ans Otto-Suhr-Institut – dorthin, wo zu dieser Zeit die Revolution tobte, der Aufstand der Studenten gegen ein Lehrsystem, das noch vom Dritten Reich geprägt war, für freie Sexualität, für eine tolerante und gerechte Gesellschaft.
1968 als Politik-Student in Berlin mittendrin
Ein Wandel, der unser Land für Jahrzehnte prägte, im Guten (eine freiere Gesellschaft) wie im Schlechten (der Terror der RAF). Und der junge Erwin, seit 1964 Mitglied der SPD, mittendrin. Nicht als Mitglied des aufrührerischen Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), sondern als Mitbegründer der Sozialistischen Hochschulgruppe, eines Verbands, der längst im Dunkeln der Zeitgeschichte verschwunden ist. Aber: „Wir waren nicht so dogmatisch wie der SDS.“
Als Student der Politikwissenschaften, ausgestattet mit einem Stipendium der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, lernte Wenzel viel über seine eigene Vergangenheit. All das über den Nationalsozialismus zum Beispiel, was damals weder die Schule noch der eigene Vater vermitteln konnten oder wollten. „Ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass es in Engerhafe oder auch in Esterwegen im Emsland Konzentrationslager gab.“
An diesem Brennpunkt der Geschichte hätte der Student Erwin Wenzel wohl groß herauskommen können – wie so viele seiner Kommilitonen, die Jahre später die Politik unseres Landes mitbestimmten. Aber der Diplom-Politikwissenschaftler ging einen anderen Weg: Zwei aussichtsreiche Stellen in Frankfurt und Saarbrücken bekam er nicht, und so nahm er Stelle Nummer 3. Und die führte ihn 1973 zurück nach Emden, in die Heimat.
Gegen die Zentralklinik, für Gesamtschulen
Als Politik- und Geschichtslehrer an der Berufsschule, angestellt und nicht verbeamtet, weil Pädagogik nicht Teil seiner Ausbildung gewesen war. Weniger Gehalt, weniger Rente – eine Ungerechtigkeit, die Erwin Wenzel bis heute ärgert. Und weil seine Frau und er wegen der Immobilienpreise kein Häuschen in Emden fanden, zogen sie in die Peripherie nach Suurhusen. Was Folgen hatte, denn Wenzel, der 1981 nach außerparlamentarischem Engagement gegen den gefährlichen Weg zum Kindergarten erstmals in den Gemeinderat von Hinte gewählt wurde, machte fortan Politik im Kreis Aurich und nicht in der Stadt Emden.
Als Lehrer war Wenzel einer, den man damals progressiv genannt hätte. Er animierte seine Schüler zu Projektarbeit, organisierte Streetball-Turniere, um Aggressionen zwischen verschiedenen Gruppen zu kanalisieren, versuchte Hauptschüler zum Lesen zu animieren und vieles andere mehr. Als Politiker, ab 1991 auch im Kreistag Aurich, war Wenzel durchaus Machtmensch, gerade in den 16 Jahren (bis zu seinem Rückzug 2011) als er den SPD-Fraktionsvorsitz inne hatte. Er sei ein „Parteisoldat“ gewesen, erinnern sich OZ-Kollegen, die ihn erlebt hatten, auch wenn er, wie er heute sagt, den Dialog mit den Bürgern suchte, weil ihm die Bürgerbeteiligung ein wichtiges Anliegen war.
Er kämpfte gegen die Pläne für eine Zentralklinik und wollte stattdessen einen Verbund der bestehenden Krankenhäuser. Er engagierte sich für den Ausbau von Gesamtschulen. Und er wollte Stärke durch Einigkeit in Ostfriesland: Ein Regionalrat sollte die Interessen der drei Landkreise und der Stadt Emden bündeln. Einer für alle statt jeder für sich. „Das wäre die beste Perspektive für unsere Region, davon bin ich immer noch überzeugt.“
Die SPD hat die eigenen Werte verraten
Der Regionalrat kam nie ins Laufen, bis er 2015 abgewickelt wurde. Und die Zentralklinik soll nun gebaut werden, nur ein paar Kilometer von seinem Wohnsitz entfernt. Im politischen Leben des heute 75-Jährigen gab es Höhen und viele Tiefen. Die größte Enttäuschung aber ist für den „demokratischen Sozialisten“, wie er sich heute noch nennt, die eigene Partei, die SPD.
Zwei Seiten hat das Schreiben, in dem er am 2. Mai seinen Austritt „mit sofortiger Wirkung“ erklärt und sein rotes Parteibuch zurückgibt. Die Gründe ergeben sich aus Wenzels Lebensgeschichte: Die Waffenlieferungen an die Ukraine, das „riesige Aufrüstungsprogramm“ für die Bundeswehr, auch die öffentliche Entschuldigung des jetzigen Bundespräsidenten und früheren Außenministers Frank-Walter Steinmeier dafür, dass die Bundesregierung viele Jahre Russland-fixiert war und ebenso der fehlende innerparteiliche Entscheidungsprozess. Das alles ist für Erwin Wenzel nicht weniger als ein Verrat an den eigenen Grundwerten. An der alten SPD, geprägt von Willy Brandt, neuer Ostpolitik und Wandel durch Handel.
Stellvertreterkrieg von Russland und den USA
Dass diese SPD in der neuen Realität gescheitert ist, dass Russlands Angriff auf die Ukraine die europäische Rechtsordnung zerstört hat, dass in der Ukraine Millionen von Menschen ums nackte Überleben kämpfen, das sieht Erwin Wenzel auch, aber als Pazifist zieht er seine eigenen Schlüsse daraus: Die USA wolle diesen Krieg, um in der seit Ende des Kalten Kriegs destabilisierten Welt ihre Vormachtstellung zu behaupten. Es sei ein Stellvertreterkrieg der Großmächte Russland und USA, ein Wirtschafts- und Kulturkrieg um die „Rohstoffe der Welt“. Und die EU sei lediglich ein „Vasall der USA“, die sich selber in den vergangenen Jahrzehnten zahlloser Kriegsverbrechen schuldig gemacht hat.
„Wie können wir es verantworten, mit unseren Waffen den Krieg in der Ukraine anzuheizen?“, fragt Erwin Wenzel in unserem Gespräch, und es ist klar, wie viel Verzweiflung das Morden und das Sterben in der Ukraine bei ihm auslöst. Er zweifelt daran, dass „es in der Ukraine wirklich um unsere Freiheit geht“ und dass Wirtschaftssanktionen Wirkung auf Putin haben. „Im Gegenteil, sie treffen ja uns mehr als Russland“, sagt er. Und in einem Leserbrief schreibt er: „Jeder Krieg ist ein Verbrechen. Menschen werden getötet und verletzt, ukrainische wie russische. Wer wirklich dafür verantwortlich ist, ist nicht so klar, wie es scheint.“
Der Traum von einer friedlichen Welt
Nein, Erwin Wenzel ist kein Putin-Versteher, auch wenn Menschen, die so denken wie er, zurzeit gerne durch eine solche Schublade diskreditiert werden. Erwin Wenzel, der als politischer Aktivist viele Jahre über Mehrheiten verfügte, vertritt mit seiner Haltung auch nicht unbedingt eine Mehrheit in unserem Land. Er ist einfach nur ein Idealist, ein Pazifist, einer, der nicht wahrhaben möchte, dass es nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs noch einmal so eine Bedrohungslage geben könnte. Er ist, wie er selber in seinem Leserbrief schreibt, „ein Träumer. Darauf bin ich stolz im Namen meines Großvaters und Vaters, die ihre Jugend in völlig sinnlosen Kriegen verloren haben.“ Jeder Mensch hat seine Geschichte. Es lohnt sich, die von Erwin Wenzel zu hören.