Brandts Welt Älteste Boyband der Welt
Jan Brandts Vater spielt auf und gehört dabei zur vermeintlich ältesten Boyband der Welt. Darüber schreibt der gebürtige Ostfriese in seiner aktuellen Kolumne.
Dein Vater will noch mit dir reden“, sagte Mutter und reichte das Telefon an Vater weiter, was sie sonst nur tat, wenn er Fußballergebnisse durchzugeben hatte oder mit mir über meine finanzielle Lage sprechen wollte, aber diesmal hatte er ein anderes Anliegen. „Ich muss dir was erzählen“, sagte Vater. „Ich war ja heute im Lindenhof, und da war ein Geiger, Manfred Bohle, der stammt aus Mülheim an der Ruhr, der macht da auch Musik, und heute haben wir zusammen gespielt, und das hat prima geklappt.“
Ich wusste, dass Vater seit einigen Wochen im Altenheim auftrat und den Bewohnern etwas auf der Mundharmonika vorspielte, und ich stellte mir diese Auftritte immer wie die von Straßenmusikern in Berlin vor, die mit Akkordeon oder Trompete in die S-Bahn stiegen und irgendein Volkslied spielten, nur dass die alten Leute im Heim an der nächsten Station nicht aussteigen konnten. „So, nun gebe ich dir deine Mutter noch mal.“ Mutter war krank, eine bakterielle Infektion des Innenohres, trotzdem liefen die Vorbereitungen für ihren 90. Geburtstag auf Hochtouren. Sie hatte das Hinterzimmer im Ulenhoff gemietet und Freunde, Verwandte und Nachbarn eingeladen.
Während der Feier ließ sie sich nichts anmerken, und einen Monat später, als längst alles überstanden war, erklärte sie, wieder im Vollbesitz ihrer Kräfte zu sein und 200 Neujahrskuchen gebacken zu haben. „Dein Vater will noch mit dir reden“, sagte sie, und Vater sagte: „Ich muss dir was erzählen.“ Diesmal erzählte er mir, dass er mit Manfred Bohle bei Reemt Neemann gewesen sei. „Der wohnt in Tjüche, da hat er ein eigenes Studio auf dem Dachboden, und der kann Gitarre spielen, du glaubst es nicht. Drei Stunden haben wir heute geprobt. Und Resi, seine Frau, hat uns mit Kaffee und Kuchen versorgt.“
Tag der Arbeit
Die Einsamkeit
Der Fernsehkrimi
Vater on Tour
Mensch, Papa“, sagte ich, „ihr seid ja eine richtige Band, mit Groupies und allem.“ – „Ja“, sagte Vater, „wir haben auch schon einen Namen: MARE – Manfred, Anton, Reemt.“ Zehn Tage später gaben sie ihr erstes Konzert im Haus Wohlthat und zwei Wochen darauf ihr nächstes in der Diakonie. Nach jedem Auftritt rief Vater mich an. „Die Leute sind begeistert.“ – „Alle singen mit.“ – „Wir haben so einen Spaß.“ Aus dem Hintergrund fragte Mutter, wann ich denn mit „dem Mädchen“ zu Besuch käme, sie meinte meine neue Freundin, Stella. „Bald“, sagte ich, „nach Ostern, erstmal fliegen wir nach New York.“ Aber die Reise mussten wir absagen, Stella hatte einen Hörsturz.
Ostern fuhr ich allein nach Ostfriesland. Vater lud mich zum Frühstückskonzert ins Haus Wohlthat ein und stellte mir Reemt und Manfred vor. Zusammen waren sie 240 Jahre alt. Die älteste Boyband der Welt, dachte ich spöttisch. Aber als sie loslegten, und alle um mich herum voller Enthusiasmus mitsangen, kam mir ein anderer Gedanke: Man darf die alten Leute nicht unterschätzen, da steckt mehr Leben drin als in vielen jungen. „Du musst mitsingen“, flüsterte Mutter mir am Ende eines Liedes zu. Und ich flüsterte in die einsetzende Stille hinein: „Ich kann den Text nicht.“