Heimatverein Overledingerland Hier wird die Kultur der Heimat bewahrt – seit 75 Jahren
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten engagierte Fehntjer den Verein. Sie investierten viel Herzblut, Zeit und Arbeit in den Aufbau. Der ist gelungen.
Rhauderfehn/Ostfriesland - Am Anfang gab es nichts, nur ein paar Leute, die vermutlich von der Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ getrieben waren: Sie wollten nach den Wirren des Zweiten Weltkriegs die Kultur im Ort wiederbeleben. Dazu kam das Interesse an Familien- und Heimatgeschichte. Mit diesem Rüstzeug machten sich der Collinghorster Lehrer Hermann Gils und der Rhauder Landwirt Heinrich Roskam 1948 an die Gründung des Heimatvereins Overledingerland. 19 Gleichgesinnte konnten sie dafür begeistern, die am 10. Juli im Gasthof Schäfer den Grundstock für den Verein legten.
Ihnen ist es zu verdanken, dass Rhauderfehn heute ein modernes Museum und einen gut aufgestellten Trägerverein hat. Der Verein feiert dieses Jahr 75. Geburtstag – unter anderem mit einer Sonderausstellung zur eigenen Geschichte. Hauptanliegen – damals wie heute – ist es, die Identifikation der Menschen des Overledingerlandes mit ihrer Umgebung zu stärken. Aber auch, Gästen die Lokalgeschichte und die Mentalität der Menschen hier nahezubringen.
Viel vor Zerstörung bewahrt
Der Wunsch nach einem Museum war von Anfang an da. Vor allem bei Heinrich Roskam, der 1949 von Hermann Gils die Vereinsführung übernahm. „Roskam war Jäger und Sammler. Er hatte selber schon einige Dokumente und Objekte aus dem Nachlass seines Großvaters. Damit legte er den Grundstock für das Museum. Später hat er die Dachböden der Leute durchforstet. Auf sein Wirken hin, sind dem Verein viele Gegenstände angeboten worden, die so vor Zerstörung oder Verkauf bewahrt werden konnten“, sagt Marcus Neumann, der heute das Museum leitet. Roskam sei maßgeblicher Gestalter des Heimatvereins gewesen und treibende Kraft bei der Museumsgründung.
Der Stellenwert der Heimatvereine und Museen für den Erhalt ostfriesischen Kulturguts sei hoch, sagt Dr. Nina Hennig, Geschäftsführerin des Museumsverbunds Ostfriesland. Der ist fachliche Beratungsstelle und Netzwerkzentrum der Museen in Ostfriesland. 16 Häuser sind ihm angeschlossen. Das Fehn- und Schiffahrtsmuseum Westrhauderfehn war 1989 Gründungsmitglied. „Die Häuser bewahren das materielle Kulturgut und sind wichtig bei der Bewahrung und Lebendighaltung von immateriellen Kulturgut: Handwerk, Sprache, Teezeremonie, Traditionen.“
Abenteuer Heimatbühne
Bis es in Rhauderfehn mit einem Museum im Jahr 1950 klappte, hatte der Verein aber schon einiges auf die Beine gestellt. „Als allererstes bildete sich die Heimatbühne. Die hatte bereits im Gründungsjahr des Vereins ihren ersten Auftritt“, erzählt Bernt Strenge, der den Heimatvereins seit 2012 leitet.
„Das war ziemlich abenteuerlich“, so Marcus Neumann: „Die Gruppe hatte 16 Auftritte an acht Spielstätten – um sich bekannt zu machen. Die ganze Bühne und die Requisiten mussten immer wieder auf- und abgebaut werden und mit einem Pferdefuhrwerk zum Ort des Geschehens gebracht werden. Die Darsteller sind mit dem Rad vorweg gefahren: im Stockdunklen, in der Winterkälte.“ Die Mühe zahlte sich aber aus. Es folgten viele weitere erfolgreiche Stücke.
Heimatbühne feierte große Erfolge
Die Leitung war „Familiensache“: 1949 war Peter Janssen Spielleiter, danach übernahm sein Sohn Peter, danach dessen Schwester Anita Steenhoff und schließlich deren Tochter Petra Brünnecke. Ab 1995 trat die Gruppe nur noch in Collinghorst auf, wo sie an der Grundschule eine feste Bühne hatte. Bei einem Brand der Räume 2021 wurde das ganze Equipment vernichtet. Der „Todesstoß“ für die Heimatbühne? Nein: Die Gruppe gebe nicht auf, sei gerade dabei, sich neu aufzustellen, so Strenge.
Tatsächlich „tot“ ist dagegen die Volkstanzgruppe des Vereins. Die wurde 1949 von Hermann Gils junior ins Leben gerufen. Friedrich und Elma Hoek übernahmen etwas später, 1958 löste sich die Gruppe auf¨– bis 1977. Anita Steenhoff leitete die wiederbelebte Truppe. Mit – in Absprache mit der Ostfriesischen Landschaft – selbst entworfenen Trachten feierten die Tänzerinnen und Tänzer deutschlandweit und darüber hinaus Erfolge. Beliebt war auch die 1984 gegründete und von Beate Janssen geleitete Kindervolkstanzgruppe. Doch das Interesse am Volkstanz schwand immer mehr. Letzte Leiterin der Tänzerinnen und Tänzer war Gabriele Nannen-Willms. Den letzten Auftritt hatte die Gruppe 2019 beim Rathausfest.
Ungebrochen dagegen das Engagement für und das Interesse am Fehn- und Schiffahrtsmuseum Westrhauderfehn. Das bekam 1950 sein erstes Quartier: im Hinterhaus der Villa Graepel, in der damals die Gemeindeverwaltung ihren Standort hatte.
Museum ist das Herzstück
„Der damalige Gemeindedirektor Anton Holthuis hatte das vermittelt“, so Bernt Strenge. Damit hatte der Heimatverein einen Fuß in der Tür. „Und nutzte jede Möglichkeit, sich in dem Gebäude zusätzlichen Platz zu beschaffen“, erzählt Marcus Neumann. Er zeigt in der aktuellen Sonderausstellung Grundriss-Pläne, in denen der Heimatverein schon eingetragen hatte, wohin er sich mit dem Museum „ausbreiten“ wollte. Und es gibt Rechnungen über Baumaterial, das für den Umbau der Räume benötigt wurde. Als die Gemeindeverwaltung 1978 auszog, hatten die Geschichtsforscher und Kulturpfleger freie Bahn – und die ganze Villa für sich. Nach und nach wurden die Räume hergerichtet, für Ausstellungen, Archiv, Magazin, Versammlungen, zum Teetrinken.
In den 1990er Jahren wurde die Schmiede vom Untenende, Baujahr 1896, im Außenbereich des Museums wiederaufgebaut. Der Museumsgarten wird zunehmend für Veranstaltungen genutzt. Regelmäßig gibt es Klönabende und Teestuben-Sonntage. Im Kanal liegt das Plattbodenschiff „Twee Gebroeders“, das ebenfalls von Ehrenamtlern des Vereins gepflegt wird.
Gegenbewegung zur Industrialisierung
Mit 75 Jahren ist der Heimatverein Overledingerland jünger als manch anderer Heimatverein. „Die erste große Gründungswelle in Ostfriesland war in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhundert“, sagt Dr. Nina Hennig. Die Motivation war aber stets die gleiche: „Heimatvereine wurden gegründet, um zu retten und zu bewahren. Etwa als Reaktion auf die Einflüsse der Industrialisierung und auf gesellschaftliche Veränderungen.“ Handwerkliche Arbeit war im Niedergang, die industrielle Produktion wurde wichtiger, die Regionaltypik wurde abschwächt: „Das waren Auslöser für die Gründung der Vereine und auch einiger Museen – als Gegenbewegung.“
So sei es auch nach dem 2. Weltkrieg gewesen. „Es war viel zerstört worden, es kam zu Flucht und Vertreibung. Neue Materialien, Kunststoffe, die wahnsinnig modern waren, kamen in Mode.“ Bei denen, die Altes bewahren wollte, habe das zum Teil zu wahlloser Sammelei geführt. Erst später seien viele Museen korrigierend an ihre Sammlung herangegangen. Das Westrhauderfehner Museum habe relativ früh erkannt, dass es sinnvoll ist, gezielt zu sammeln – und seinen Fokus auf Schifffahrt, Fehnschifffahrt und Moorkultur zu legen, so Hennig.
Hohe Dichte in Ostfriesland
In Ostfriesland, sagt sie, gebe es rund 60 Museen und museale Sammlungen. „Das ist für die Größe der Region eine hohe Zahl. Es schient ein ziemliches Bedürfnis zu geben, sich mit Geschichte zu befassen und sie zu präsentieren.“
Die Angebote seien für Einheimische und als außerschulische Lernorte interessant. Sie seien aber auch ein harter Wirtschaftsfaktor im Bereich Tourismus. Und außerdem Orte für ehrenamtliches Engagement.
Neues Kapitel: die Zukunft
Das Fehn- und Schiffahrtsmuseum Westrhauderfehn hat 2016 eine weitere Seite im Buch der eigenen Geschichte aufgeschlagen: Der Heimatverein unter Bernt Strenge beauftragte ein professionelles Museumskonzept. Im Zuge der Umsetzung wurde 2018 mit Marcus Neumann der erste hauptamtliche Leiter eingestellt. Er hat einen hauptamtlichen Mitarbeiter.
Damit seien die Weichen für eine zukunftsträchtige Entwicklung des Hauses gestellt, freut sich Strenge. Das bedeute auch Investitionen – wie in einen Audioguide und eine Umgestaltung der Ausstellung. Dafür wirbt Neumann unablässig auch Fördermittel ein. Das soll künftig leichter fallen: „Wir streben das Museums-Gütesiegel an“, so Neumann.
Bei aller Professionalität: Damals wie heute läuft ohne Menschen im Ehrenamt nichts: „Wir haben rund 30 aktive Helfer“, betonen Neumann und Strenge unisono, „ohne sie wäre das nicht so zu bewältigen.“
Heinrich Roskam – Gestalter des Heimatvereins
Wichtiger Motor bei der Gründung des Heimatvereins Overledingerland und des Museums war Heinrich Roskam. In der Sonderausstellung „Wi hebben uns Freetied gern hergeben“ zum 75. Jubiläum des Heimatvereins wird er als solcher auch hervorgehoben: Geboren 1897 in Weener, aufgewachsen im Umfeld des historischen Hafens, übernahm Roskam 1923 den Hof seines Großvaters in Rhaude. Unterlagen aus dem Nachlass seines Großvaters waren der Grundstock für seine Sammlung. Es folgten umfangreiche Veröffentlichungen zur Heimatgeschichte. Roskam war politisch gut vernetzt, engagiert im Gemeinderat und dem Kreistag sowie in vielen Verbänden. Auch seinen Kontakte war es zu verdanken, dass Verein und Museum gedeihen konnten. Viele Jahre leitete Roskam den Heimatverein und das Museum. Seine persönliche Sammelleidenschaft half, die Magazine des Museums zu füllen. Darüber hinaus war er Mitglied der Ostfriesischen Landschaft, wo er sich in den Fachgruppen Museen, Volkskunde und Brauchtum engagierte. Maßgeblich war er an der Gründung des Ostfriesischen Museumsverbundes beteiligt. 1963 erhielt er für sein lebenslanges Engagement das Bundesverdienstkreuz. Roskam verstarb 1981 im Alter von 84 Jahren.