Kolumne „Zugezogen“ Calavera – und das Gedenken der Toten
In ihrem heutigen Beitrag schreibt GA-Kolumnistin Clarissa Scherzer über ihre Teilnahme an einem Museums-Workshop in Oldenburg.
Aus Wollfäden forme ich bunte Kügelchen und lege sie Jürgen vor die Nase. „Die musst du noch alle reinnadeln. Das ist der Kopfschmuck für unseren Totenkopf“, erläutere ich meinem Hamburger Freund das Prozedere. Wir sitzen auf Kinderstühlen im Kreativraum des Landesmuseums Oldenburg. Vor Jürgen liegt auf einem Schwamm ein nackter Wollschädel. Mit einer Nadel sticht er im Sekundentakt auf ihn ein. Stich für Stich wird der frei geformte Schädel fester. Für Mund, Augen und Nase zwirbel ich schwarze Wollfäden zurecht. Während an dem Gruppentisch Kinder geräuschvoll ihrer Kreativität freien Lauf lassen, genießen Jürgen und ich am Katzentisch in der Ecke nahezu schweigend den meditativen Prozess des Wolle-Zwirbelns und Wolle-Nagelns. Wir sind die einzigen Erwachsenen, die beim Museums-Workshop „Filzen von Calaveras“ mitmachen.
Calavera ist spanisch und heißt Totenschädel. Nach lateinamerikanischem Vorbild wird im Museum in Kooperation mit dem lateinamerikanischen Verein Latinburg den Toten mit Basteln, Musizieren und Tanzen gedacht. „Das ist ein Vorgeschmack aufs Altenheim. Da wird auch viel gebastelt“, unterbreche ich die Wollmeditation. Jürgen antwortet mit einem Seufzer. Basteln ist nicht seins. Nur widerwillig folgte er mir ins Museum. Ich schiebe Mund, Augen und Nase rüber. Kommentarlos beginnt er, die Wollteile in den Schädel zu nadeln. „Du sagst ja gar nichts“, sage ich. „Ich habe mich meinem Schicksal ergeben. Es fühlt sich an, als wäre ich Chirurg oder Tätowierer“, erwidert Jürgen nadelnd. Dann bin ich wieder an der Reihe. Stich um Stich verschönere ich unseren Totenkopf und steche mir dabei dornröschenlike in den Finger. Ein Blutstropfen quillt aus der Wunde. Jürgen zaubert aus dem Nichts ein Pflaster hervor und versorgt wie ein Prinz mit Doktortitel meine Blessur. Im Untergeschoss könnten wir noch Ton-Skelette formen, wollen wir aber nicht. Stattdessen freuen wir uns über Livemusik der lateinamerikanischen Latinburg Band. Alles in allem eine sehr schöne Tradition, den Toten zu gedenken.