„Brandts Welt“ Die dunkle Jahreszeit
In der Kolumne „Brandts Welt“ beschreibt Autor Jan Brandt seine Erlebnisse während einer Fahrt mit der Bahn – und die sind nicht erfreulich.
„Ich kann dich doch hinbringen“, sagte Vater, „das ist kein Problem.“ Wir saßen in der Küche, tranken Tee, aßen ein paar von den frisch gebackenen Neujahrskuchen. Draußen dämmerte es. „Nein“, sagte ich zum wiederholten Mal, „das ist Schwachsinn.“ Vater schüttelte den Kopf. „Ich will dir bloß einen Gefallen tun.“ Ich schüttelte ebenfalls den Kopf. „Das musst du nicht.“ Bis zur nächsten Bushaltestelle waren es nur ein paar hundert Meter, und als es soweit war, zog ich meine Jacke an, legte meinen Schal um, verabschiedete mich von Vater und ging meinen Koffer hinter mir her rollend Richtung Folmhuser Straße.
Der Bus kam nicht zur angegebenen Zeit, und ich fürchtete schon, den Zug in Leer zu verpassen. Eine Viertelstunde wartete ich im Nieselregen, der unter die Überdachung wehte. Endlich rauschte der Bus heran, und weil in Leer die Umgehungsstraße gesperrt war, fuhr er direkt zum Bahnhof. Allerdings hielt er vorm Postamt – der Busbahnhof war eine Baustelle – ich rannte zum Gleis und erreichte es, als der Intercity gerade einfuhr. Außer Atem zog ich Jacke und Schal aus und setzte ich mich an einen leeren Vierertisch. Wenn ich die Anschlusszüge in Bremen und Hamburg erwischte, würde ich um halb zehn in Berlin sein.
Zug hält wegen eines Personenschadens
Kurz vor Oldenburg gab es eine Vollbremsung. „Sehr geehrte Fahrgäste“, sagte der Schaffner über die Lautsprecheranlage, „aufgrund eines Personenschadens sind wir hier in Wechloy außerplanmäßig zum Halten gekommen. Das wird eine Weile dauern. Wir müssen jetzt auf Polizei und Staatsanwaltschaft warten. Sobald ich nähere Informationen habe, melde ich mich bei Ihnen.“ Er meldete sich alle halbe Stunde mit neuen Informationen: dass es kein Unfall gewesen sei, sondern Suizid; dass die Leichenteile übers ganze Gleis verstreut lägen und dass wir besser nicht nach draußen schauen sollten. Kaum hatte er das gesagt, schauten alle um mich herum nach draußen, aber außer unseren Spiegelbildern und dem hell erleuchteten Abteil war nicht viel zu erkennen.
Nach zwei Stunden sagte der Schaffner: „So, wir haben jetzt alle Teile beisammen, der Bestatter ist da, und die Polizei hat uns die Freigabe zur Weiterfahrt erteilt. Beim nächsten Bahnübergang machen wir noch einen kurzen Stopp, wo uns die Feuerwehr erwartet und vorne saubermacht. Dann geht’s weiter. Über die Anschlusszüge informiere ich Sie, sobald wir in Oldenburg eingetroffen sind.“
Besser tagsüber mit der Bahn fahren
In Oldenburg rief ich die Bahn-App auf, um meine Verbindung zu überprüfen. Wenn ich den Metronom in Bremen erreichte, könnte ich es noch bis Berlin schaffen. Erleichtert lehnte ich mich zurück und schloss die Augen. „Sehr geehrte Fahrgäste“, hörte ich den Schaffner sagen, „leider muss ich Ihnen mitteilen, dass sich hinter Delmenhorst noch ein Mensch das Leben genommen hat. Ich würde Ihnen daher raten, Ihre Reise hier abzubrechen und in Oldenburg unterzukommen. Zurück können Sie nämlich auch nicht, weil die Strecke noch nicht wieder freigegeben ist. In der Vorweihnachtszeit rate ich Ihnen, tagsüber zu fahren, vor Einbruch der Dunkelheit.“