Mein Lieblingsartikel 2023 So wird ein Mensch zu Asche

Nicole Böning
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Von Nicole Böning
| 28.12.2023 17:33 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 8 Minuten
Nur einen kurzen Moment lang öffnet sich der Schieber zum Ofen und gibt den Blick auf die Hitze im Inneren frei. Foto: Ortgies
Nur einen kurzen Moment lang öffnet sich der Schieber zum Ofen und gibt den Blick auf die Hitze im Inneren frei. Foto: Ortgies
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Hand aufs Herz: Wer hat schon einmal gesehen, wie in einem Krematorium gearbeitet wird? Die Autorin hat ihre Chance genutzt und hinter die Kulissen geschaut.

Ich habe diesen Artikel ausgewählt, weil er zeigt, wie vielfältig die Arbeit eines Reporters ist und welche tiefen Einblicke wir manchmal bekommen. Trotz des für viele schwierigen Themas kamen viele Rückmeldungen von Lesern. Nach mehreren Artikeln zum Thema Beerdigung wurde ich gefragt, wie ich mich denn bestatten lassen würde ... Der Artikel ist erstmals am 28. Juni 2023 erschienen.

Emden/Aurich - Das moderne, mit Klinkersteinen und Holz verkleidete Gebäude in Bungalow-Optik liegt am Rand des Neubaugebietes direkt am Friedhof Tholenswehr in Emden. Die Sonne scheint und die rote Eingangstür ist weit geöffnet. Mit einem breiten Lächeln steht Birgit Klinkenborg im Eingang. Sie hat ein Hühnchen mit mir zu rupfen. „Schreiben Sie nie wieder verbrennen im Zusammenhang mit Menschen“, sprudelt es aus ihr hervor: „Verbrannt wird nur Müll. Wir sagen einäschern oder kremieren.“ Sie lacht.

Birgit Klinkenborg im Raum mit dem Ofen (im Hintergrund) und der Anlage zur Rauchgasbehandlung. Foto: Ortgies
Birgit Klinkenborg im Raum mit dem Ofen (im Hintergrund) und der Anlage zur Rauchgasbehandlung. Foto: Ortgies

Die schlanke Frau, die uns im Emder Krematorium in Empfang nimmt, sprüht vor Energie. „Na, hätten Sie so etwas erwartet?“, fragt sie herausfordernd, während sie mit den Armen weit ausholt und auf die Umgebung deutet. Nein, habe ich nicht, gebe ich zu. Wenn ich mir ein Krematorium vorstelle, ist es ein gesichtsloses Gebäude in einem Industriegebiet – in meiner Fantasie hat es einen rauchenden Schornstein. Ein echtes Krematorium habe ich noch nie gesehen. In Wirklichkeit gibt es zwar einen Schornstein, doch Rauch steigt dort nicht auf. Das Emder Krematorium ist eines von 161 seiner Art in ganz Deutschland. Seit Jahren geht der Trend zur Urnenbestattung – allein 70 Prozent der Verstorbenen wurden 2021 eingeäschert.

Es steigt kein Rauch aus dem Schornstein

Das Lächeln der 52-Jährigen wird noch strahlender, als sie mich und den Fotografen durch die helle Eingangshalle und in den großen Trauerraum führt. Klinkenborg erinnert sich noch genau daran, wie sie am 29. Dezember 2014 das erste Mal durch die rote Eingangstür getreten ist. „Ich habe mich gleich aufgehoben gefühlt“, sagt sie. „Es war schön zu sehen, dass man so etwas auch schön machen kann.“ Nicht einmal ein Jahr später wurde das Krematorium ihr Arbeitsplatz.

Ein Sarg vor dem „Muffelschieber“ – der Tür zum Ofen des Krematoriums. Foto: Ortgies
Ein Sarg vor dem „Muffelschieber“ – der Tür zum Ofen des Krematoriums. Foto: Ortgies

Jetzt führt sie uns weiter, vorbei geht es an den Räumen, in denen die Hinterbliebenen Abschied nehmen können – bis wir dorthin kommen, wo eine unscheinbare metallische Ofentür auf die Verstorbenen wartet. Hier stehe ich nun, weil ich für einen Artikel über neue Friedhofstrends den Plaggenburger Pastor Roman Ott mit den Worten zitiert habe: „So sauber wie ihr Ruf ist die Feuerbestattung nicht.“

Statt einer Standpauke gab es eine Einladung

Umgehend kam eine E-Mail aus dem Emder Krematorium. „Ich bin entsetzt“, schrieb mir damals Birgit Klinkenborg als Assistentin der Geschäftsführung bei Feuerbestattungen Weser-Ems, zu der das Emder Krematorium gehört. Als ich sie ein paar Tage später am Telefon habe, bleibt die Standpauke aus. Stattdessen lädt sie mich ein – mit dem Versprechen, ich könne mir im Krematorium alles genau ansehen.

Im Keller liegen die zweite und dritte Einäscherungsstufe des Etagenofens. Hier unten werden die Überreste entnommen. Foto: Ortgies
Im Keller liegen die zweite und dritte Einäscherungsstufe des Etagenofens. Hier unten werden die Überreste entnommen. Foto: Ortgies

Also stehe ich nun vor sieben Holzsärgen, die vor dem Ofen aufgereiht sind. Einer wartet vor der Tür über der Einfahrmaschine. Etwa jede Stunde öffnet sich der Schieber und ein weiterer Sarg fährt in die Hitze, erklärt mir Firmentechniker Robert Fabig. Er sitzt an der Rückwand des Raumes an seinem Schreibtisch und deutet auf seinen Monitor. Auf dem Schaltbild ist zu sehen, was hinter der Tür passiert. Es ist heiß, sehr heiß. Im Ofen sind knapp 900 Grad Celsius. Ich sehe, dass die Tür, vor der die Särge warten, nur zur ersten von drei Ofenkammern führt. Was man in diesem Raum nicht ahnt: Die Anlage hinter der Wand reicht hinab bis in den Keller – wie ein Eisberg, von dem nur die Spitze aus dem Wasser ragt.

Dann geht alles ganz schnell

„Das ist ein Moment, den immer mehr Hinterbliebene miterleben wollen“, sagt Birgit Klinkenborg. Gleich wird sie den Sarg in den Ofen gleiten lassen – das passiert vollautomatisch. Die 52-Jährige wurde im Bundesausbildungszentrum für Bestatter im unterfränkischen Münnerstadt zur Kremationstechnikerin ausgebildet. Deshalb darf sie die Anlage bedienen: Sie drückt den Knopf mit dem Schriftzug „Muffelschieber“. So heißt die metallische Tür. Ein Klacken ertönt, dann ein dumpfes Sausen. „Der Ofen erzeugt einen Unterdruck, damit kein Rauch beim Öffnen austritt“, sagt die Fachfrau.

Firmentechniker Robert Fabig überwacht und betreut die Anlage. Foto: Ortgies
Firmentechniker Robert Fabig überwacht und betreut die Anlage. Foto: Ortgies
Durch ein Fenster hinten im Ofen können die Mitarbeiter des Krematoriums den Einäscherungsvorgang überwachen. Foto: Ortgies
Durch ein Fenster hinten im Ofen können die Mitarbeiter des Krematoriums den Einäscherungsvorgang überwachen. Foto: Ortgies

Der Metallschieber vor dem Sarg gleitet wie von Geisterhand nach oben. Unter dem Sarg hebt sich die Metallschiene, fährt die hölzerne Last mit dem Verstorbenen in die orangerote Gluthitze. Die Ofenklappe fährt so schnell wieder herunter, dass ich nur kurz sehe, wie der Sarg an den Ecken sofort Feuer fängt. Alles ist so schnell vorbei, dass ich kaum realisiere, dass gerade ein Mensch den Flammen übergeben wurde. Eine Viertelstunde später wird vom Holz nichts übrig sein, verrät Birgit Klinkenborg. Für die Angehörigen wäre jetzt Schluss, aber ich werde mir ansehen, was hinter der Wand passiert.

Der Holzsarg verbrennt schnell

Birgit Klinkenborg öffnet die Tür zum Raum mit dem Ofen. Alles ist so, wie ich es als Ingenieurin von anderen Anlagen kenne, blitzsauber und modern. Der Unterschied ist, dass im Kopf Bilder ablaufen. Zum Beispiel in dem Moment, als mir klar wird, dass hier Menschen – wie ich selbst – ihren letzten Weg antreten. Ihre Verwandlung kann ich beobachten. Hinten im Ofen gibt es ein Sichtfenster. Hier wird überprüft, ob der Leichnam bereit für die nächste Stufe ist. Als ich hineinsehe, ist gerade das Holz des Sarges verbrannt. Ich starre in die leeren Höhlen eines Schädels. Es ist das erste Mal, dass ich an diesem Tag dem Tod ins Gesicht blicke.

Das bleibt nach dem Einäschern von einem Menschen übrig: Knochenstücke und Metall. Foto: Ortgies
Das bleibt nach dem Einäschern von einem Menschen übrig: Knochenstücke und Metall. Foto: Ortgies

Die Mitarbeiter der Feuerbestattungen arbeiten im Zweischichtbetrieb. Angeheizt werden muss der Ofen nur morgens, dann wird er mit Erdgas auf Temperatur gebracht. „Durch die Eigendynamik der Einäscherung wird danach kaum noch Gas verbraucht“, sagt Klinkenborg. Deshalb versteht sie nicht, warum sich viele über den hohen Energieverbrauch von Feuerbestattungen aufregen. Man müsse eher aufpassen, dass es nicht zu heiß wird.

Es geht um absolute Transparenz

„Absolute Transparenz ist uns wichtig“, sagt Birgit Klinkenborg, als sie meine Reaktion nach dem Blick in die Flammen sieht. Jeder dürfe dort hineinsehen, außer Angehörige. Auch als ihre eigene Großmutter im Krematorium eingeäschert wurde, habe sie sie nur bis zur Tür des Ofens begleitet. „Dann bin ich gefahren, mehr wollte ich nicht sehen“, sagt sie. Aber ich selbst bin keine Angehörige und sehe an diesem Tag Dinge, die mir fremd vorkommen. Dabei sind es die Überreste von Körpern wie meinem.

Sorgsam verpackt warten die recycelbaren Aschekapseln im Keller des Krematoriums auf ihren Einsatz. Foto: Ortgies
Sorgsam verpackt warten die recycelbaren Aschekapseln im Keller des Krematoriums auf ihren Einsatz. Foto: Ortgies

Birgit Klinkenborg erklärt, wie weit die Transparenz im Emder Krematorium geht. Ich bin nicht die einzige, die hinter die Kulissen blicken darf. Jeder ist willkommen. Vor allem aber besuchen Auszubildende in Pflegeberufen und Hospizmitarbeiter das Krematorium. Birgit Klinkenborg erzählt ihnen alles, was sie wissen wollen. Für mich geht es jetzt weiter in den Keller. Ist die oberste Kammer leer, fallen die Überreste über eine Klappe eine Etage tiefer zur weiteren Einäscherung. Das passiert automatisch. Dann kommt noch eine Klappe und die letzte Kammer.

Übrig bleiben nur Knochen und Metall

Sie nennen es „Asche ziehen“, wenn sie den Schub mit den Überresten nach etwa drei Stunden im Keller aus dem Ofen ziehen. Dabei ist keine Asche zu sehen, es sind zerfallene Knochen, die kaum an das erinnern, was den Menschen einmal durch sein Leben getragen hat. Nur die Knie und Oberschenkelknochen sowie ein paar Wirbelkörper sind gut zuerkennen. Dazwischen liegen die Metallkrampen des Sarges. Die Metalle werden herausgesammelt und an ein Unternehmen zum Recycling weitergeleitet. Der Erlös wird gespendet.

In Emden geht jeder Mensch in die Flammen, wie er gelebt hat – mit künstlichen Körperteilen und Herzschrittmacher. Vom Jäger in Jagdkleidung bis zum Fußballer im Trikot, begleitet von den Bildern der Kinder und Enkel oder mitgegebenen Teddys. Am Ende bleibt von allen das Gleiche. Birgit Klinkenborg stellt eine recycelbare Aschekapsel unter die mit Metall verkleidete Mühle, gibt die Knochen hinein und drückt den Knopf. Bevor sie nach dem Mahlen den Deckel schließt, werfe ich einen Blick auf das feine Pulver. Dann wiege ich das Gewicht der vollen Aschekapsel, die mir Birgit Klinkenborg in die Hand drück. Drei Kilo schätze ich, mehr bleibt nicht von einem Menschen.

Als ich meinen Eltern von diesem Besuch erzähle, könnten die Reaktionen nicht unterschiedlicher sein. Meine Mutter will alles wissen, lässt sich die Bilder zeigen – irgendwo zwischen Schaudern und gespannter Neugier. Mein Vater möchte davon lieber gar nichts hören. Er erklärt, er habe gerade beschlossen, einfach nicht zu sterben. Das Herausfordernde an einem Krematorium sind eben nicht die Dinge, die man sieht – nicht die Knochen, die Särge und der Ofen – sondern alles, was danach kommt oder auch nicht.

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