Mein Lieblingsartikel 2023 Wie eine Unterschrift im Vertrauen das Leben ruinieren kann

Gabriele Boschbach
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Von Gabriele Boschbach
| 30.12.2023 17:38 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 8 Minuten
Irene Kirscht kämpft darum, dass ihr Haus in Extum nach ihrem Tod nicht in die falschen Hände fällt. Foto: Boschbach
Irene Kirscht kämpft darum, dass ihr Haus in Extum nach ihrem Tod nicht in die falschen Hände fällt. Foto: Boschbach
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2015 hat eine Seniorin ihr Haus in Extum verschenkt, was sie jetzt bereut und ändern will. Das funktioniert aber nicht. Die Notarin übersah damals unter Umständen ein Detail − mit verheerenden Folgen.

Die Geschichte der Auricher Rentnerin, die in die Falle eines Erbschleichers getappt ist und jetzt mit aller Kraft versucht, sich zu befreien, hat mich sehr berührt. Der Artikel ist erstmals am 2. Dezember erschienen.

Aurich - Die prall gefüllten Aktenordner mit Polizei-Protokollen, Anzeigen und Urkunden liegen beim Besuch der Redaktion bereits auf dem Tisch. „Dort ist alles dokumentiert“, sagt Irene Kirscht und ringt nach Atem. Die Auricherin muss Kraft schöpfen, um erzählen zu können, was ihr in den vergangenen Jahren passiert ist.

Die 85-Jährige sieht sich als Opfer eines Betrügers. Sie ist keinem Enkeltrick aufgesessen. Ihr ist nicht das passiert, wovor allerorten gewarnt wird. Nämlich perfide Schockanrufe, die das Bewusstsein einnebeln und alte Menschen dazu bringen, fremden Menschen viel Geld auszuhändigen. Und das nur, damit angeblich bedrohten Familienmitgliedern geholfen werden kann. So etwas muss Irene Kirscht nicht fürchten: Sie hat keine Kinder. Ihr Ehemann ist vor acht Jahren gestorben. Einer seiner letzten Sätze vor seinem Tod sei eine Warnung vor jenem Mann gewesen, dem sie blind vertraute, erzählt die Seniorin. Am 3. September 2015 hat sie ihm per notariell beglaubigtem Grundstücksüberlassungsvertrag ihr Eigenheim in Extum übertragen. Nennen wir ihn Herrn N. Er hat sich als Gegenleistung verpflichtet, sie zu pflegen, sollte dies irgendwann einmal erforderlich sein. Die Schenkende selbst hat sich ein lebenslängliches Wohnrecht in der Urkunde eintragen lassen.

Jahrelang hat Herr N. Süßholz geraspelt

Irene Kirscht lernte Herrn N. Anfang 2014 kennen, weil er als Mitarbeiter einer Auricher Firma ein Problem mit der Kanalisation in ihrem Haus beheben sollte. Man kam ins Gespräch, war sich sympathisch und pflegte auch bald privaten Kontakt zueinander. Der handwerklich talentierte Brookmerländer machte sich im Haushalt und Garten von Irene Kirscht nützlich. Er schnitt Hecken, besserte das Flachdach aus, mähte den Rasen und war zur Stelle, wenn kleine Reparaturen erforderlich waren. Außerdem empfand die Witwe seine Nähe lange Zeit als wohltuend für ihre Seele: „Er hat Süßholz geraspelt“, sagt sie heute über ihn.

Während des Gesprächs streicht sie unablässig die Ärmel ihres beigefarbenen Wollpullovers hoch, als wollte sie sagen: „Es gibt viel zu tun.“ 2018 stellte sie auf den Namen von Herrn N. eine Vorsorgevollmacht und eine Patientenverfügung aus. Sie gab einem Mann sehr viel Macht und Kontrolle über ihr Leben, der damals sein Geld im weitesten Sinne mit gastronomischen Projekten verdiente. Oder sollte man sagen: verdienen wollte? Nach OZ-Informationen soll bei diesen Vorhaben immer Sand im Getriebe gewesen sein. Irene Kirscht sagt, sie habe stets zu dem heute 56-Jährigen gehalten, habe ihm sogar rund 50.000 Euro geliehen, damit er beruflich Fuß fassen konnte.

Verhältnis war schwer zerrüttet

Vor rund drei Jahren kam es aber nach ihrer Darstellung zu einem Bruch. Seither sei das Verhältnis zu Herrn N. schwer zerrüttet. Während sie im Sommer 2020 im Krankenhaus war, soll der Mann ihren Mercedes-Oldtimer, diverse wertvolle Möbel und weiteres Inventar in seinen Besitz gebracht haben.

Irene Kirscht kann immer noch nicht fassen, was ihr passiert ist: „Es kann doch nicht sein, dass ich mit jemandem so gut war, der sechs Jahre lang jeden Tag angerufen und sich nach mir erkundigt hat. Und dann knallt es plötzlich, als ich im Krankenhaus bin. Dann hat er hier fast alles ausgeräumt.“ Sie macht eine raumgreifende Bewegung durch ihr Wohnzimmer, wo in Vitrinen Sammlerstücke aus Porzellan aufbewahrt sind. Sie liebt alte Puppen, Blechspielzeug und Steiff-Tiere aus vergangenen Jahrzehnten. Eine ihrer Lieblingssendungen ist „Bares für Rares“. Mit ihrem Hobby könnte sie ihre ganze Zeit ausfüllen. Stattdessen sieht sie sich seit drei Jahren gefordert. Mehrmals war sie bei der Polizei, hat Anzeige wegen Untreue erstattet. Zu einer Anklage ist es nie gekommen.

Entscheidende Klausel fehlt im Vertrag

Der erste Anwalt, den sie mit der Wahrnehmung ihrer Interessen beauftragte, setzte immerhin ein Hausverbot für Herrn N. durch. Auch die Vorsorgevollmacht konnte er im März 2022 für unwirksam erklären lassen − sehr zur Verwunderung von Herrn N.: Er habe sich mit seiner Frau „gewissenhaft und gerne“ um die Pflege von Irene Kirscht gekümmert, habe in der Zeit ihrer Operation Pflegeplatz, Kuraufenthalt und häusliche Pflege organisiert und die Einstufung eines Pflegegrades begleitet. Das geht aus einem Briefwechsel mit der Kanzlei hervor, die Irene Kirscht vertreten hatte. Seither versucht die Auricherin, den Überlassungsvertrag für ihr Eigenheim rückgängig zu machen. Die Redaktion hat die Rechtsanwältin Monika Lemm nach der grundsätzlichen Rechtslage in derartigen Fällen gefragt. Eine Bewertung des Einzelfalls ist selbstverständlich ausgeschlossen, weil der Auricher Juristin die konkreten Details nicht bekannt sind. Einer ihrer Beratungsschwerpunkte ist Erbrecht. Generell sei die Rückforderung einer Schenkung nach den gesetzlichen Bestimmungen nur sehr eingeschränkt möglich, erklärt sie. Zudem könnte der Schenker einen Widerruf der Schenkung vertraglich festlegen. Ein solcher Vermerk ist in dem Grundstücksübertragungsvertrag, der der Redaktion in Kopie vorliegt, nicht enthalten.

Gesetzlich gäbe es laut Monika Lemm unter anderem die Möglichkeit des Widerrufs der Schenkung aufgrund groben Undanks. Dies komme nur dann in Betracht, wenn es sich überwiegend um eine unentgeltliche Übertragung des Grundstücks handelt. Weil aber vertraglich eine Pflegeleistung durch den Beschenkten vereinbart gewesen sei, könne von einer reinen Unentgeltlichkeit nicht ohne Weiteres ausgegangen werden. Man müsse also unter Umständen von einer „gemischten Schenkung“ ausgehen. Sofern der unentgeltliche Teil des Vertrags überwiegt, wäre die Widerrufsmöglichkeit aufgrund groben Undanks erst anwendbar. Sodann müssten in diesem Fall schon schwere Verfehlungen des beschenkten Freundes vorliegen, damit man von grobem Undank sprechen könnte. Darunter verstehe man solche Taten, bei „denen eine verwerfliche Gesinnung zum Ausdruck kommt“. Das Problem: Irene Kirscht hätte eigentlich spätestens innerhalb eines Jahres, nachdem sie von dem Betrug mit dem Mercedes Kenntnis erhalten hatte, den Widerruf der Schenkung erklären müssen. Das sehen die gesetzlichen Fristen so vor. Eine Chance sieht Monika Lemm allerdings noch: Es wäre zu prüfen, ob die Grundstücksübertragung tatsächlich überwiegend als Schenkung zu werten ist: Falls dem nicht so ist, wäre die Anwendung anderer Rückabwicklungsvorschriften außerhalb des Schenkungsrechts möglich.

Anwälte haben kapituliert

Auch Irene Kirscht hatte Anwälte beauftragt, war allerdings bei der Auswahl weitgehend glücklos. Ihr erster Anwalt hat seine Tätigkeit Anfang Dezember 2022 aus gesundheitlichen Gründen niedergelegt. Für seine Tätigkeit forderte er ein Honorar in Höhe von 4200 Euro.

Sein Nachfolger bei der rechtlichen Vertretung von Irene Kirscht warf bereits nach wenigen Monaten das Handtuch. Vorher hat er seine Mandantin noch bei einer kitzligen Angelegenheit vertreten: Sie hatte versucht, die Rechtmäßigkeit des Schenkungsvertrags in Zweifel zu ziehen. Ihre Begründung: Ihre Notarin habe sie im September 2015 nicht sachgerecht belehrt. Eine entsprechende Beschwerde bei der Notarkammer für den Oberlandesgerichtsbezirk Oldenburg wurde zurückgewiesen. Man könne keinen Amtspflichtenverstoß der Notarin erkennen, hieß es.

Anwalt rät zu kompetenter Beratung

Wie kann sich jemand davor schützen, in einer Erbschaftsangelegenheit in eine Falle zu tappen, wie es Irene Kirscht offenbar passiert ist? Phil Cordes, Sprecher der Polizeiinspektion Aurich/Wittmund, sagt auf Anfrage der Redaktion, dass Erbschleichereien immer ein großes persönliches Dilemma darstellten. Vieles spiele sich dabei im zivilrechtlichen Bereich ab. Oft gebe es keine Zeugen für etwaige Absprachen. Später stehe dann Aussage gegen Aussage.

Weil die Ausgangslage häufig so schwierig sei, könnten die Strafverfolgungsbehörden keine beweisrechtlich relevanten Tatsachen ans Tageslicht bringen. Der Düsseldorfer Fachbuchautor Dr. Joerg Andres formuliert auf seiner Homepage einen eindringlichen Rat: „Gehen Sie bei Schenkungen auf Nummer sicher. Wenn Sie sich entschlossen haben, eine Schenkung in größerem Umfang auszuführen, nehmen Sie schon vorher kompetenten Rechts- und Steuerrat in Anspruch, damit alles wunschgemäß läuft.“ Der Düsseldorfer Fachanwalt für Steuerrecht hat unter anderem ein Buch darüber geschrieben, welche Kniffe Prominente nutzen, um ihr Eigentum durch geschicktes Schenken vor dem finanziellen Zugriff des Staates zu bewahren.

Unterschrift hat ihr das Genick gebrochen

Gute Ratschläge nützen Irene Kirscht jetzt nichts mehr. Sie trauert vor allen Dingen um den Verlust ihres geliebten Mercedes 190 E 2.3. Sie hat recherchiert, dass der mindestens viermal weiterverkauft worden ist und aktuell bei einem Oldtimer-Club in Ostfriesland steht. Als sie am 24. Juni 2020 nach ihrer Operation aus der Reha in Bad Oeynhausen zurückkam, leistete sie eine Unterschrift, die ihr vermutlich das Genick gebrochen hat. „Ich war von der sechsstündigen Fahrt und den vorherigen Strapazen so weggetreten, ich wusste nicht, was ich quittiere. Ich habe mir gedacht, dass ich ihn so lange kenne und deshalb nichts zu befürchten habe“, sagt sie rückblickend. Laut Herrn N. soll sie die Schenkung ihres Fahrzeugs unterschrieben haben. Wäre das so, stünde sie auf fast verlorenem Posten. Dennoch kämpft sie weiter. Ihre größte Hoffnung? Nicht zu sterben, bevor die Übertragung ihres Gebäudes rückgängig gemacht worden ist.